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Statt Schulnoten ein Portrait
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Statt Schulnoten ein Portrait

Dr. Peter Kristen
Ein Beitrag von Dr. Peter Kristen, Evangelischer Pfarrer und Studienleiter, Religionspädagogisches Institut Darmstadt
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Moderation: Es ist nur ein Halbsatz, aber der sorgt für einigen Wirbel. Im neuen Koalitionsvertrag von CDU und Grünen steht: Ein paar Schulen in Hessen dürfen ausprobieren, wie es ist, in bestimmten Klassenstufen auf Noten zu verzichten. Stattdessen sollen die Schülerinnen und Schüler eine schriftliche Bewertung ihrer Leistung bekommen. Also Text statt Noten. Der Lehrerverband Hessen ist dagegen, weil Noten klar definiert sind. Eine Drei ist eine Drei. Das versteht jeder. Und die Eltern? Die erleben zwar oft die Angst ihrer Kinder vor schlechten Noten. Aber sie freuen sich, dass Ziffern ihnen scheinbar schnell und eindeutig sagen, wie es um die Schulleistungen ihrer Kinder steht.

„Ich bin zwei“, sagt Marco. Wir sitzen im Gang vor dem Klassenraum, um seine Zeugnisnote zu besprechen. „Ich bin zwei, ich hab’s mir schon ausgerechnet: die Klausur und dann meine Mitarbeit im Unterricht …“ Marco sieht mein skeptisches Gesicht und unterbricht sich selbst: „Keine zwei?“ „Du bist nicht zwei“, sage ich. „Du bist einer, Marco. Du bist Lisas Bruder, Tims bester Freund, Sohn deiner Eltern und vieles mehr. Du bist einer, ein ganz Unverwechselbarer.“ „Ach, Herr Kristen“, stöhnt Marco. „Ich weiß, das hatten wir in Reli: Kind Gottes, unverdiente Gnade und so.“

Zeugnisnoten verbinden viele mit dem, was sie wert sind: King, Loser oder irgendwas dazwischen. Wie ist das, wenn ich meine Schulzeugnisse von früher wieder einmal in die Hand nehme? Wie hat sich das damals angefühlt, als ich von eins bis sechs bewertet wurde? Angst und Enttäuschung, Ärger und mich ausgeliefert fühlen, aber auch Erleichterung und Stolz.

Heute bin ich selbst Lehrer. Ich hab lange an einem Gymnasium unterrichtet. Jetzt benote ich Studierenden an der Hochschule. Ob Noten oder Bewertung in Worten: Ich versuche, allen mit Wertschätzung zu begegnen, gerade auch denen, mit deren Leistung ich nicht zufrieden bin. Für mich spiegelt sich darin wider, dass jede und jeder ein unverwechselbarer Mensch ist, bei Gott angenommen. Und jeder Mensch ist viel mehr als das, was er leistet. Schulnoten können ausdrücken, wie gut jemand das kann oder weiß, was im Unterricht zu lernen war. Sie sagen aber nichts darüber, was jemand wert ist.

Es geht auch ohne Schulnoten. Das beweisen kreative und erfolgreiche Menschen, die Schulen besucht haben, in denen es keine Noten gab: die Aufsichtsratschefin des Henkel-Konzerns oder die Gründer von Google und Wikipedia.

Schriftliche Porträts statt Noten auch in Hessen. Dann würde mein Schüler Marco nicht mehr sagen: „Ich bin zwei.“ Dann würden er und ich als sein Lehrer gleich darüber sprechen, was er geschafft hat und wo er sich weiter entwickeln kann. Das braucht natürlich mehr Zeit. Aber es würde die Schule verändern. Ich wünsche uns den Mut, es zu versuchen. Um der Kinder willen.

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