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Im Spiegel
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Im Spiegel

Prof. Dr. Markus Tomberg
Ein Beitrag von Prof. Dr. Markus Tomberg, Professor für katholische Religionspädagogik, Fulda und Marburg
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Der Blick in den Spiegel: für viele Menschen gehört er zum alltäglichen Ritual. Und das nicht nur morgens im Bad. Der prüfende Blick – manchmal braucht der nicht mehr als eine Schaufensterscheibe. Psychologen vermuten, dass der Blick in den Spiegel für Menschen von ganz besonderer Bedeutung ist. Sie haben ein sogenanntes „Spiegelstadium“ identifiziert. Irgendwann, meist zwischen 6 und 18 Monaten, entdecken Kinder sich selbst zum ersten Mal im Spiegel. Und machen eine eigenartige Erfahrung: Das Bild im Spiegel – das bin ich und bin es doch nicht. Für die Entwicklung des kindlichen Selbstbildes ist diese Entdeckung von großer Bedeutung.

Aus ihr entwickelt sich nämlich das menschliche Selbstverhältnis: Die eigentümliche Erfahrung, von sich nicht nur in der ersten Person Singular sprechen, zu sich selbst „Ich“ sagen zu können. Sondern sich zugleich aus der Außenperspektive betrachten zu müssen. Ich bin einzigartig – und zugleich nur einer von Milliarden. Mit dieser Diskrepanz müssen wir leben – und jeder Blick in den Spiegel erinnert uns daran.
Der Blick in den Spiegel – er hat so etwas Trauriges. Nicht deshalb, weil der Spiegel ein zuweilen hartes Urteil spricht. Über mein Gesicht, meinen Körper, meine Kleidung. Nicht, weil er mir mein Älterwerden drastisch vor Augen führt. Sondern weil mein Bild mir sagt: Ich bin wie alle – und das ernüchtert. Und zeigt mir zugleich: So wie die andern wirst du nie sein. Das kann verstören.

Das Spiegelbild: Es zeigt mir mich. Und es zeigt mir den Riss, der zu mir gehört. Mein Nicht-mit-mir-selbst-ganz-im-Reinen-Sein. Mein Nicht-ganz-Sein. Jedes Spiegelbild ruft in Erinnerung, dass da eine Nicht-Identität bleibt, etwas Ausstehendes, Uneinholbares: eine Unfreiheit mitten in mir selbst.
Na und?, kann man fragen und sich damit begnügen. Man kann trotzig und wirkungslos rebellieren. Und man kann der Tradition der Bibel vertrauen: Sie nennt den Menschen Bild Gottes. Und glaubt: Nicht der unbarmherzige Spiegel hat das letzte Wort über uns. Sondern die Menschenfreundlichkeit Gottes.

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