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Leistung und Ruhestand
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Leistung und Ruhestand

Clemens Scheitza
Ein Beitrag von Clemens Scheitza, katholischer Religionslehrer im Ruhestand, Frankfurt
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Wonach sich viele in den letzten Berufsjahren oft sehr sehnen, das habe ich nun schon seit einiger Zeit erreicht: den Ruhestand. Strahlend hab ich es damals im Freundeskreis erzählt. Die Reaktion: gut gemeinte Hinweise: „Du kannst dich doch jetzt engagieren. An der Uni weiter lernen. Ehrenamtlich Unterricht erteilen oder auch im Kindergarten vorlesen. Du hast ja so viel Zeit, da musst du dir das Leben gestalten. Einfach nur lesen, dich ausruhen, das kann’s doch nicht sein.“ Zuerst habe ich darüber gelächelt, verwundert geschaut, aber dann hab ich begonnen, Dinge aufzuzählen und mich zu rechtfertigen: „Ja, ich halte jetzt die Wohnung in Schuss und gehe einkaufen, ich hab dem Sohn beim Abitur geholfen, der Tochter beim Studium, in der Pfarrei kleine Seminare gegeben.“ Spätestens dann war mein Gegenüber zufrieden. Man muss eben etwas Vorzeigbares tun, nicht einfach sich ausruhen. Sonst - so das Argument - fällst du in ein tiefes Loch, bist unzufrieden mit dir.

Das Schlimme dabei: Diese Forderungen werden nicht nur von draußen an mich herangetragen, von meinen Freunden und Bekannten. Nein, ich selbst setze mich unter Druck. Was ich in meinem Berufsleben getan habe, sollte ich doch irgendwie weiterführen. Ich war Lehrer. Also weiter lehren. Weiter vor einem Auditorium sprechen, Wissen vermitteln. Dort Lob einholen.

Leistung auch im Ruhestand? Das liegt gar nicht so fern: 60 Jahre lang habe ich gehört: Leistung, besser sein als die anderen, das bringt dich nach vorne. Leistung bringt Lob und Geld. Leistung jetzt macht später dein Leben leichter: In der Schule: wenn du das Abi schaffst, bekommst du den Beruf, den du willst. Im Studium: wenn das Studium gut läuft, bekommst du die Arbeit, die dir gefällt. In der Arbeit: wenn du dich anstrengst, mehr machst als die anderen, wirst du befördert. Wenn du dann eine höhere Position hast, musst du die auch durch Leistung unter Beweis stellen. Leistung und Konkurrenz haben mein bisheriges Leben bestimmt. Wenn ich zurückschaue, muss ich sagen, eigentlich hat das ja auch geklappt! Warum sollte ich das ändern?

Also muss ich als Ruheständler mehr erleben als die anderen, größeren Reisen machen, mich fordern, mich fit halten: wichtig Dinge stemmen, dann bin ich wer. Daran bin ich gewöhnt. Das entspricht meiner bisherigen Lebenseinstellung.

Musik

Ich bin nun schon fast zehn Jahre im Ruhestand, da mehren sich die Zeichen dafür, was Ruhestand eigentlich bedeutet: Man braucht wirklich mehr Ruhe. Die Tätigkeiten verschieben sich: der Gang zum Arzt wird auf einmal wichtig. Die Konzentration nimmt ab, die Müdigkeit nimmt zu. Reisen sind schön, können aber auch beschwerlich werden. Enkel sind herrlich, aber strengen auch an. Die digitale Welt ist nicht mehr ganz verständlich, aber ohne sie ist man abgehängt! Deshalb: immer mehr muss ich meine Kinder darüber befragen. Die Rollen verschieben sich: der Vater braucht Hilfe, die Kinder geben sie ihm. Da komme ich schon ins Grübeln! Wie soll das weitergehen, wenn ich immer weniger leisten kann?

Ich brauche eine Antwort, die mich überzeugt, von jemanden, der mich überzeugt. Im Neuen Testament gibt es dazu die Geschichte vom Fischfang. Heute wird sie in den Gottesdiensten der katholischen Kirche vorgelesen: Petrus und seine Freunde haben den ganzen Tag gefischt und nichts erreicht. Jesus kommt dazu und fordert sie auf, noch einmal zu fischen. Obwohl dies für die erfahrenen Fischer unsinnig ist, tun sie es. Die Netze sind voll. Petrus, einer der Fischer, schämt sich, dass er Jesus nicht gleich vertraut hat. Jesus tröstet: „Hab keine Angst!“ Petrus und seine Freunde sind beeindruckt von diesem Jesus, lassen alles liegen, gehen mit ihm mit.

Ich kann diese Geschichte als eine Wundergeschichte begreifen. Dagegen hat mich als Kind und Jugendlicher etwas Anderes bewegt: erwachsene Männer, sicherlich Väter, verlassen ihre Familie, folgen Jesus nach. Das kommt mir doch seltsam vor, fast verantwortungslos: Auch wenn Jesus die Männer beeindruckt, rechtfertigt das doch für mich nicht, die Familie allein zu lassen. Für mich kein Vorbild.

Jetzt sehe ich diese Geschichte anders, eher als ein Beispiel für die Verwandlung der Lebensweise eines Menschen. Als ein Beispiel dafür, dass ein Mensch alles liegen lässt, seine Existenz aufs Spiel setzt, sich vollkommen wandelt: vom Fischer zum Prediger, zum Menschenfischer. Seine Lebenseinstellung verändert. Das ist möglich!

Pause

In der Geschichte aus dem Neuen Testament ist der Ausgangspunkt der Misserfolg des Petrus und seiner Freunde bei ihrer täglichen Arbeit, beim Fischen. In dieser Situation begegnen sie Jesus. Er macht ihnen deutlich: Du brauchst dir deinen Lebenssinn nicht zu erarbeiten. Er wird dir geschenkt! Vertraue auf mein Wort, versuche es - und du wirst vollen Erfolg haben, deine Netze werden voll sein. Sie vertrauen ihm, die Netze sind voll, sie gehen mit ihm.

Allerdings wäre ich nicht so schnell dabei wie Petrus in der Geschichte. Er wirft tatsächlich noch mal seine Netze in den See. Er lässt sich in seiner Erfolglosigkeit helfen, schämt sich nicht. Ich dagegen habe doch starke Zweifel: Wie werde ich mit meinen nachlassenden Kräften zurechtkommen? Ob ich mir helfen lassen möchte, wenn ich Schwierigkeiten habe, die alltäglichen Dinge zu ordnen, wenn ich vergesslich werde? Was geschieht, wenn ich krank bin, wenn ich nur noch Hilfe von den anderen brauche, sie nicht mehr weitergeben kann? Es fällt mir schwer, diesen Zustand zu akzeptieren, dabei nicht traurig zu sein. Ja, beschämt.

In dieser Geschichte sagt Jesus dazu: „Hab keine Angst!“ Für mich heißt das: Ich sorge für dich, beschenke dich, mache deine Netze voll. Du bist mir wichtig. Für mich drückt Jesus darin aus: Du bist mehr als deine Leistung und Funktion, nicht ein kleines Rädchen in der großen Wirtschaftsmaschine. Ein Rädchen, das geschmeidig funktionieren muss. Ich, wir sind mehr als das. Da gibt es etwas, was uns hält, uns einmalig macht, uns Glück schenkt. Etwas, was uns übersteigt. Etwas, was außerhalb von uns ist und uns doch umfasst. Etwas Unbeschreibbares, Personales. Jesus nennt dies Gott, seinen Vater.

Mir wird klar: Wie bei Petrus und seinen Freunden: Es geht um meine Lebenseinstellung, wie ich mich verstehen will: entweder als jemanden, der sich auch im Alter nur durch seine eigene Leistung Achtung und Selbstachtung verschafft und Krankheit und Tod einfach meistern und überstehen muss. Oder ich verstehe mich, wie Jesus mich sieht: als jemanden, der unabhängig von seiner Leistung anerkannt und geliebt ist, einer, der einmalig ist. Als jemanden, der sich nach dauerhaftem Glück und Geborgenheit sehnt. Jesus sieht mich als jemanden, der über seine Dimension noch eine andere Dimension erwartet, eine Dimension, die ihm dieses Glück vermittelt, ein Glück, das ich mir nicht selbst erarbeiten muss oder kann. Jesus versteht mich als jemanden, dessen Leistung darin besteht, anzunehmen: Ich kann und muss nicht alles leisten - und bin doch etwas wert.

Ich setze auf diese Lebenseinstellung, zu der Jesus mich ermutigt: Nur so kann ich im Ruhestand wirklich Ruhe finden.

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