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Das Gewissen - Stachel oder Ruhekissen?
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Das Gewissen - Stachel oder Ruhekissen?

Stefan Claaß
Ein Beitrag von Stefan Claaß, Evangelischer Pfarrer und Professor, Theologisches Seminar Herborn
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Die Geschichte ist mir heute noch peinlich. Ich hatte in der Stadt zufällig einen früheren Klassenkameraden getroffen und wir haben uns für den nächsten Tag verabredet. Ich war nicht begeistert. Ich habe mich zu dem Treffen überreden lassen. Am nächsten Tag habe ich absolut keine Lust. Ich greife zum Handy und schreibe ihm eine Nachricht: „Sorry, mir ist etwas dazwischengekommen, ich kann heute nicht.“ Und dann füge ich gegen meine innere Überzeugung hinzu: „Lass uns nächste Woche was finden.“ Am Nachmittag bin ich guter Stimmung, ich habe frei. Ich gehe in mein Lieblingscafé, bestelle Linzer Torte. Gerade als der Kuchen serviert wird, steht der Klassenkamerad vor der Scheibe und schaut herein. Blöd gelaufen. Was jetzt? Modell A: „Was muss der jetzt ausgerechnet hier vorbeilaufen. Selber schuld.“ Modell B: „Mist! Das ist jetzt peinlich. Wie komm ich aus der Nummer wieder raus? Ausrede finden? Ehrlich sein?“ Modell B ist auch bekannt unter dem Satz: „Das Gewissen meldet sich.“ Ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich habe meinen alten Genossen angelogen. Das hätte ich nicht tun sollen. Eigentlich. Dieses „eigentlich“ ist ein Schlüsselwort für unser Gewissen. Eigentlich sollte ich niemanden anlügen. Eigentlich sollte ich jetzt mit meinen Kindern spielen statt mit dem Computer. Eigentlich sollte ich auch mal was im Haushalt machen. Je nach Gewissensstärke kann die Liste sehr lang werden. Interessant ist dann die Frage: Wer meldet sich da eigentlich zu Wort? Wer ist das im Gewissen? Ein kleiner Quälgeist, der mir immer sagt, was ich falsch mache? Manche meinen, das Gewissen sei so etwas wie die Stimme Gottes, die mir zu einem besseren Leben verhilft. Ich schaue mir heute Morgen mal genauer an, wer sich da zu Wort meldet.

Als erstes fällt mir auf, dass mein Gewissen nicht für sich existiert. Es braucht ein Gegenüber. Ich habe bei einem guten oder schlechten Gewissen immer jemanden gegenüber. Den Klassenkameraden, die eigenen Kinder, die Partnerin. Und manchmal auch Gott. Das Gewissen wacht über unsere Beziehungen. Das hat erst einmal nicht unbedingt mit Religion und Glaube zu tun. Es meldet sich und sticht mich, wenn ich mich eigentlich – eigentlich!  - anders verhalten sollte. Es nagt und beißt, wenn ich etwas tue, was meiner Beziehung schadet. Bei mir und dem Klassenkameraden ging es nicht nur um die Lüge. Als der andere durchs Fenster ins Café schaut, sieht er folgende Botschaft von mir: „Ich esse lieber hier allein meine Linzer Torte als mich mit dir zu treffen!“ Das tut weh. Und je nachdem, wie wichtig mir diese Beziehung ist, lässt sich das Gewissen mit Ausreden beruhigen oder eben nicht. Je kostbarer die Beziehung, desto lebendiger das Gewissen. Und je mehr ich gegen meine eigenen Werte verstoßen habe – zum Beispiel ehrlich zu sein -, desto mehr nagt es an mir. Nach der Musik geht es darum, was das Gewissen alles kann.

Das Gewissen kann ein sanftes Ruhekissen sein. Oder ein spitzer Stachel, der richtig wehtut. Es schaut uns über die Schulter und kommentiert, was wir in unseren Beziehungen tun. Wenn du dich dafür entscheidest, lieber ins Büro zu fahren, obwohl zu Hause die Kinder mit dir auf die Eisbahn wollen, dann meldet sich das Gewissen und hakt nach. Ist das Büro wirklich, wirklich wichtig? Jetzt? Oder ist es eine Ausrede, weil du keine Lust auf Schlittschuhlaufen hast? Das Gewissen ist ein Meister darin, Ausreden zu erkennen und zu entlarven. „Das ist unangenehm“, sage ich dann vielleicht, „lass mich in Ruhe!“ Das Gewissen antwortet: „Du kannst dich gegen mich entscheiden, aber du kannst mir nicht den Mund verbieten!“ 

Das Gewissen kann mich also ganz schön vor sich hertreiben. Es kann nicht über mich bestimmen, aber es kann mich gehörig in Unruhe versetzen. Woher kommt dieser Einfluss, diese innere Stimme? Manche Menschen sagen, es sei die Stimme Gottes. Das glaube ich nicht. Dafür ist das Gewissen manchmal zu kleinlich. Und ein anderes Mal zu großzügig. Andere sagen, das Gewissen komme aus der Erziehung, es folge den Regeln, die meine Eltern mir mitgegeben haben. Nicht verkehrt, aber für mich auch nicht ganz richtig. Ich finde einen Hinweis in einer Geschichte, die Jesus in der Bibel erzählt. „Ein Mann hatte zwei Söhne. Er ging zum ersten und sagte: ›Mein Sohn, geh und arbeite heute im Weinberg! ‹ Aber der antwortete: ›Ich will nicht!‹ Später tat es ihm leid und er ging doch. Genauso bat der Vater seinen zweiten Sohn. Der antwortete ihm: ›Ja, Herr!‹ Aber er ging nicht hin. Wer von den beiden Söhnen hat getan, was der Vater wollte?« (Matthäus 21, 28-31, Basisbibel)

Die Antwort ist klar. Aber die interessante zweite Frage lautet: Warum entscheidet sich der erste Sohn anders? Woher kommt es, dass ihm seine Antwort leid tut? Er könnte ja so handeln wie sein Bruder. Aber offensichtlich liegt ihm etwas an seinem Vater. Sein Gewissen meldet sich und zeigt ihm, was für die Beziehung gut ist.

Und genau in dieser Rolle sehe ich das Gewissen als ein Gottesgeschenk. Es kann mir helfen, meine Beziehungen zu pflegen. Es kann mich davor bewahren, meine Beziehungen zu beschädigen. Vorausgesetzt, das Gewissen wird in guter Weise gefördert und entwickelt. Leider ist das nicht immer der Fall. Manchmal verfolgen Menschen ganz eigene Interessen und wollen anderen ein schlechtes Gewissen einreden. Oder es bleibt ganz unbenutzt. So hat das Oscar Wilde einmal über einen Zeitgenossen gesagt: „Er hatte ein reines Gewissen. Er hat es nie benutzt.“ Die eine wie die andere Gefahr hat üble Folgen. Denn wir brauchen unser Gewissen nicht nur privat, sondern auch im öffentlichen Leben. Davon mehr nach der Musik.

Das Gewissen kann mir helfen, meine Beziehungen zu pflegen. Es kann Ausreden entlarven und mich zu mehr Ehrlichkeit ermutigen. Das gilt nicht nur für den privaten Bereich, sondern auch für das gemeinsame öffentliche Leben. Das Gewissen spielt in unseren politischen Debatten nur ab und zu eine erkennbare Rolle. Die Abgeordneten in unseren Parlamenten sind nur ihrem Gewissen verpflichtet. Eigentlich. Das finde ich richtig und gut. Aber sie müssen dann auch sagen können, woran sich ihr Gewissen orientiert. An der Verfassung, an den Menschenrechten, an ihrem Glauben, an Grundüberzeugungen. Darüber müssen sie Auskunft geben können. In unserem öffentlichen Leben hat das Gewissen immer noch einen hohen und anerkannten Stellenwert. Wenn jemand als „gewissenlos“ bezeichnet wird, ist das ein hartes Urteil. Der ist unberechenbar und egoistisch. Und das ist dann das Interessante, dass totalitäre Regime kein Interesse am Gewissen haben. Im Philosophischen Wörterbuch der DDR gab es keinen Artikel zum Stichwort „Gewissen“. Versuchen Sie mal, sich in Nordkorea oder China auf Ihr Gewissen zu berufen. Das ist gefährlich. Adolf Hitler hätte es am liebsten abgeschafft, er hielt es für eine jüdische Erfindung, die die Menschen überfordert. Sie sollten lieber auf die Parteipropaganda hören. Das finde ich entlarvend. Wenn Diktatoren und Autokraten sich Sorgen machen und das Gewissen der Menschen fürchten, muss etwas Gutes dran sein. Das Gewissen hält uns die Freiheit des Denkens und Fühlens offen. Ich kann mich auch anders entscheiden. Im öffentlichen und im privaten Leben. Ja, das Gewissen hat eine große jüdische und christliche Tradition, es pflegt die Beziehung zu Gott. In Gottes Sinn achte ich darauf, seine Schöpfung zu bewahren und Menschen zu achten. Davon haben auch die etwas, die selbst nicht an Gott glauben. Die Gabe, ein Gewissen zu entwickeln, hat Gott allen Menschen geschenkt. Nicht alle bekommen Unterstützung dabei. Nicht alle achten ihr Gewissen. Aber wir alle profitieren davon, dass Menschen ihr Gewissen zu Wort kommen lassen. Ich bin dankbar für alle, die widersprechen und widerstehen, wo politische Unterdrücker Menschen und Meinungen klein halten. Und ich bin dankbar für allen Mut bei anderen und bei mir selbst, wenn das Gewissen „eigentlich“ sagt. Wie bei mir damals im Café, als mein alter Klassenkamerad sieht, dass ich ihn angelogen habe. „Eigentlich hätte ich dir ehrlich sagen sollen, dass ich mich heute nicht mit dir treffen will. Ausreden sind blöd. Tut mir leid! Wenn du magst, lade ich dich jetzt auf ein Stück Linzer Torte ein.“

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