Morgens, abends und immer
Zufällig sehe ich aus dem Fenster. Gegenüber steht er. Auf dem Balkon vom Hotel. Ein großer, junger Mann. Er wickelt sich ein Lederband um den Arm, bindet sich etwas an die Stirn und hat einen Schal in der Hand. Gleich wird er beten. Das machen viele Juden so. Wenn man die Sonne sieht, kommt das Morgengebet mit Gebetsriemen, Gebetschal und Worten, die sie sich in einem Kästchen an die Stirn binden. Der Mann schaut Richtung Sonne, hat den Schal über dem Kopf und spricht Worte, die sein Glaube ihm vorgibt: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist einzig. Dabei verneigt er sich mehrmals. Lässt sich von nichts stören. Was er nicht sehen will, sieht er nicht. Der Herr ist unser Gott; er ist einzig. Der Mann sieht sich und Gott. So beginnt sein Tag. Mit Ordnen der Welt. Es gibt mich; und es gibt dich, Gott.
Beten ist Ordnen der Welt. Man faltet die Hände oder legt sie zusammen. Man steht still oder sitzt, vielleicht schließt man die Augen. Dann sagt man Worte; laut oder leise. Bringt etwas Ordnung ins Leben. Wer betet, sucht Gleichgewicht. Alleine ist alles zu schwer. Man muss abgeben. Es auf die andere Seite legen, zum Gegenüber. Bitte, Gott, sagt man und erzählt ihm. Oder Danke; danke für dies und das. Abgeben macht leichter. Ich werfe es nicht weg, sondern gebe dem Herrn der Welt, was ich alleine nicht tragen kann. Der Herr ist unser Gott. Was auf mir liegt, rede ich mir von der Seele. Das Traurige; das Schöne. Danke für die Geschenke des Lebens. Alles teile ich mit Gott. Morgens, abends und immer. Er bringt mich in Ordnung. Und lässt mich fühlen: Ich trage dich mit dir.