Nachgetragene Liebe
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Nachgetragene Liebe

Ein Beitrag von Dr. Frank Meessen

Eines meiner Lieblingsbücher stammt von Peter Härtling, dem hessischen Autor, der letztes Jahr gestorben ist. Es ist aus dem Jahr 1980 und trägt den Titel „Nachgetragene Liebe“. Darin beschreibt ein Ich-Erzähler nüchtern die Beziehung zu seinem Vater, die keineswegs harmonisch war. Der Vater hat in der Nazi-Zeit als Anwalt gearbeitet und war von ständiger Unsicherheit und Angst getrieben. Den Sohn hat er mit harter Hand angefasst.

Als Soldat überlebte der Vater den Zweiten Weltkrieg, starb aber wenige Monate nach Kriegsende in einem französischen Gefangenenlager. Jahre später steht der Sohn nun an dessen Grab. Er ist mittlerweile schon älter, als es der Vater je wurde. In seiner Rückschau wird nichts verdrängt oder beschönigt. Ganz im Gegenteil. Aber man spürt deutlich, dass er keine Abrechnung mit dem toten Vater will. Sein Antrieb für dieses Buch ist vielmehr die Absicht: Er will verstehen. Verstehen, wie der Vater so streng und hart werden konnte. Er schreibt: „Die Zeit war ihm nicht günstig. Sie verachtete Empfindsamkeit, verhöhnte die Nachdenklichen als Schwächlinge … Ich habe mir bisher nie klargemacht, wie sehr er sich umstellt sah.“ Und so verfolge ich als Leser die Entwicklung des Sohnes: wie dieser lernt, den Vater zu verstehen. Und wie aus diesem Verstehen langsam Verständnis für den Vater wird. Denn Verständnis für einen Menschen zu haben, ist eine Spur mehr, als bloß die Umstände zu kennen. Im Verständnis schwingt Nähe und Zuneigung mit. Und so steht der Sohn am Grab des Vaters und denkt: „Ich fange an, Deine Hand (noch) im Nacken, dich zu verstehen, zu lieben.“

Ob das geht, mag einer fragen. Dass ich nach Jahren noch Verständnis aufbringe für jemanden und ihm meine Liebe quasi nachtrage? Ich glaube schon. Wenn ich jemanden mit dem Kopf verstehen will, dann kann ich vielleicht mit dem Herzen auch Verständnis für ihn aufbringen. Auch wenn der andere schon längst tot ist. Dann trage ich sie ihm eben nach, meine Liebe. So, wie in diesem Buch von Peter Härtling über die „Nachgetragene Liebe“.

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