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Jetzt und in der Stunde unseres Todes
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Jetzt und in der Stunde unseres Todes

Dr. Ansgar Wucherpfennig
Ein Beitrag von Dr. Ansgar Wucherpfennig, Jesuitenpater, Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt
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Winni hat oft auf einer Bank in unserem Park in Sankt Georgen gesessen. Meist in einer bequemen Cordhose, mit einem karierten Hemd und einer Strickjacke. Bis vor ein paar Wochen habe ich ihn noch jeden Tag gesehen. Dieser Sommer war für ihn besonders schön, weil es so lange warm und trocken war. Dann hat er gern dort im Sonnenlicht gesessen und die Leute gegrüßt, die vorübergingen. Er war immer sehr höflich: „Gnädigste“, sagte er zu einer Freundin, wenn sie vorbeikam. Dann hat er sie zum Tee eingeladen und sie haben sich Gedichte vorgetragen. Viele konnte er auswendig. Auch uns, seinen Jesuiten-Mitbrüdern, hat Winni oft Gedichte rezitiert, zum Beispiel wenn wir abends draußen beim Wein zusammensaßen, und er von seiner Parkbank wieder auf sein Zimmer ging. Bei einem der letzten Male, als er so an uns vorbeikam, ist gerade die Sonne untergegangen und hat den Park in ihr warmes Licht getaucht., und Winni zitierte ein Gedicht von Heinrich Heine: „Mein Fräulein sein Sie munter, / das ist ein altes Stück, / hier vorne geht sie unter / und kehrt von hinten zurück.“

Anders als die Sonne wird Winni nicht mehr zurückkehren, es war sein letzter Sommer. Vor ein paar Wochen ist er gestorben. 80 Jahre ist er geworden, im Juni haben wir noch groß seinen Geburtstag gefeiert, und er hat sich riesig gefreut. Seine Freude war ansteckend; wenn ich ihn Lachen sah, konnte ich nicht anders als auch fröhlich zu sein. „Dufte“ sagte er dann, weil es aus dem Hebräischen kommt, tov heißt auf Hebräisch einfach „gut“. Winni war mein Lehrer im Alten Testament. Er kannte nicht nur viele Gedichte auswendig, sondern auch vieles aus der Bibel, Psalmen, Stellen aus den Paulusbriefen oder aus den Sprichwörtern. Wer etwas auswendig lernt, nimmt es auch in sein Herz auf, hat Winni oft gesagt.
Am meisten wird mir wohl in Erinnerung bleiben, wie er abends auf der Parkbank saß, einen Rosenkranz zwischen seinen Fingern spielen ließ und betete. Er betete, blieb aber aufmerksam und hat herüber gelächelt. Dabei hat er immer wieder ein Gebet wiederholt, das er seit seiner Kindheit auswendig konnte: das „Gegrüßet seist du Maria“. „Heilige Maria, bitte für uns … jetzt und in der Stunde unseres Todes“ hat Winni gebetet. Es ist ein Gebet für die Stunde des Todes, für den Abschied von allem, was mir hier begegnet.
Wer etwas auswendig lernt, nimmt es auch in sein Herz auf! Ich bin sicher, dieses Gebet hat Winni in seinem Herzen auf die Stunde seines Todes vorbereitet. Die letzten Wochen vor seinem Tod waren für ihn noch einmal sehr bewegend. Er musste in der Klinik mehrfach von einer Station in die nächste verlegt werden. Das fand er sicher nicht mehr dufte. Als ich ihn das letzte Mal besucht habe, war er trotzdem im Frieden. Der Abschied ist traurig für mich, noch heute, aber ich bin sicher: Auch Gott wird gesehen haben, dass er in seinem Herzen bereit war, zu ihm zu gehen. Er wird Winni wie vielen anderen Verstorbenen jetzt Ruhe und Leben schenken.

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