Saudade – Sehnsucht: 60 Jahre Bossa Nova
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Saudade – Sehnsucht: 60 Jahre Bossa Nova

Rüdiger Kohl
Ein Beitrag von Rüdiger Kohl, Evangelischer Pfarrer, Frankfurt-Bockenheim

Ich habe längere Zeit in Brasilien gelebt. Da ist er mir auf Schritt und Tritt begegnet: der Musikstil Bossa Nova. Vor 60 Jahren ist die Bossa Nova in Rio entstanden. Das Neue der Bossa Nova war der Rhythmus, der auf der Samba basiert. Und auch die neuen, poetischen Inhalte. Die Bossa Nova besitzt Sinnlichkeit und gleichzeitig eine traurige Sehnsucht. Von der Sehnsucht handeln unendlich viele Lieder der Bossa Nova. Sinnlichkeit und Sehnsucht. Beide sind grundlegende menschliche Wesenszüge. Vermutlich ist die Bossa Nova deswegen populär geblieben.
Im Juli 1958 nahm der brasilianische Sänger João Gilberto das Lied „Chega de Saudade“ auf. Seine Stimme klang erkältet, und das einzige Instrument war seine Gitarre, auf der er einen diskret beschwingten Rhythmus schlägt. João Gilberto singt von seiner großen Liebe, die er schrecklich vermisst. „Geh, meine Traurigkeit, und sag ihr, sie soll wiederkommen. Denn ich kann nicht länger leiden. Ohne sie ist kein Frieden, keine Schönheit. Nur Traurigkeit und Melancholie, die mich nicht loslässt.“
Das Wort Saudade wurde im letzten Jahr vom Berliner Institut für Auslandsbeziehungen zu einem der schönsten Wörter der Welt gewählt. Es steht im Portugiesischen für einen Gefühls-Mix aus Sehnsucht, Melancholie, Schmerz, Nostalgie und Einsamkeit – und doch ist die Saudade wunderschön. Sie trägt eine Erinnerung in sich und hält die Hoffnung wach, dass sich die Sehnsucht erfüllt.
Deshalb hat João Gilberto gesungen, „Chega de Saudade“, „Genug der Sehnsucht“. Ja, es ist schön, wenn die Sehnsucht gestillt wird. Manchmal blitzt etwas auf in meinem Leben, was die Erfüllung der Sehnsucht ahnen lässt: wenn ich richtig glücklich bin, wenn ich einen Menschen wiedertreffe, den ich lange vermisst habe; oder bei einem schönen Erlebnis in der Natur. Das sind Sternstunden, in denen ich am liebsten die Zeit anhalten möchte.
Leben ohne Sehnsucht wäre nichts für mich. Ich finde, Sehnsucht ist wertvoll. Auch wenn sie schmerzhaft ist. Sehnsucht hat auch mit meinem Glauben an Gott zu tun. Ich glaube an einen Gott des Lebens. Es gibt diese Momente, in denen ich spüre: Das ist Leben. Das ist Gott in meinem Leben. Der Moment ist da und doch gleich wieder vorbei. Aber die Sehnsucht bleibt. Sehnsucht, Saudade – das ist eine Spur, auf der wir Gott finden. Gott kann ich nicht festhalten oder besitzen. Aber ich kann mich nach ihm sehnen.
Ich werde heute Abend eine CD einlegen, die ich damals aus Brasilien mitgebracht habe. Sie heißt: „Das Beste der Bossa Nova“. Und ich werde bei der Musik die Saudade, die schmerzlich-schöne Sehnsucht genießen.

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