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Prof. Dr. Karlheinz Diez
Ein Beitrag von Prof. Dr. Karlheinz Diez, Katholischer Weihbischof, Fulda
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 „Gehen wir unter der Führung des Evangeliums seine Wege, damit wir ihn schauen dürfen, der uns in sein Reich gerufen hat.“ Dieser Satz aus der Regel des hl. Benedikt ist von großer Aktualität für mich. „Gehen wir unter der Führung des Evangeliums seine Wege.“ Diese Wege durfte ich nämlich vor 14 Tagen wieder einmal bei einer kurzen Reise nach Israel gehen. Ganz hautnah war ich mit einer kleinen Gruppe an den Stätten, in denen Jesus gelebt und verkündet hat, in denen er gekreuzigt wurde und auferstanden ist von den Toten. Welch eine Erfahrung wieder! Die Wege Jesu gehen, ganz intensiv auf ihn schauen dürfen, das Innere von ihm berühren lassen. Die Evangelien berichten davon, sie sind so etwas wie ein geistlicher Reiseführer auf den Spuren Jesu. Wir waren an den Orten: Bethlehem, die Geburtsstadt Jesu; Nazareth, der Ort der Verkündigung der Geburt Jesu, die Heimat seiner Eltern Maria und Josef; Kafarnaum, die Stadt am See Genezareth, in der Jesus sich niedergelassen und gelebt hat; hier hat er in der Synagoge gelehrt und eine Reihe seiner Wunder vollbracht: Er heilte die Schwiegermutter des Petrus und erweckte die kleine Tochter des Synagogenvorstehers Jairus wieder zum Leben, hat Kranke geheilt. - Und schließlich Jerusalem: das letzte Abendmahl mit seinen Jüngern, die Nacht am Ölberg, die Gefangennahme und der Prozess, das Verhör durch Pontius Pilatus, das Todesurteil, die Geißelung, der furchtbare Tod am Kreuz, die Grablegung und die Auferstehung am dritten Tag. Bethlehem, Nazareth, Kafarnaum, Jerusalem - Orte, die zu einer spirituellen Erfahrung werden, wenn man die Wege Jesu geht. Dazu kommen noch viele andere. Ich denke an die Brotvermehrungskirche am See Genezareth mit dem ältesten Mosaik der Darstellung der Brote und Fische. Tag für Tag feiern die Benediktinermönche in Tabgha dort die Eucharistie. Wer auf den Wegen Jesu geht, kann sich gut zurückversetzen in die Zeit Jesu, kann ihn sich vorstellen inmitten einer Menschenmenge auf dem Berg der Seligpreisungen, in der Einsamkeit versunken im Gebet mit dem Vater in den Hügeln Galiläas oder als frommer Jude beim Sabbat in der Synagoge. Während meiner Reise habe ich immer wieder die Einladung gespürt, mich mit den verschiedenen Personen um Jesus zu identifizieren und aus ihrer Sicht auf Jesus zu schauen. In diese Lebenswelt von damals führt auch der Text aus dem Markusevangelium am heutigen Sonntag, ich möchte ihn abschnittsweise bedenken:
In jener Zeit ging ein Schriftgelehrter zu Jesus hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. 

Musik: Georg Friedrich Händel (1685-1759), Berliner Philharmoniker, Wassermusik, Titel 9 „Allegretto“, Dauer: 3:42

Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortet auf die Frage des Schriftgelehrten ohne Umschweife. Das erste und wichtigste Gebot ist: Du sollst den Herrn deinen Gott lieben. Er greift das berühmte „Schma Jisrael“, das tägliche Gebet aus dem biblischen Buch Deuteronomium auf, der dem Gebot vorausgeht: „Höre Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig“ (Dtn, 6, 4). Dem Schriftgelehrten, dem gläubigen Juden, ist diese Stelle aus dem täglichen Gebet am Morgen und am Abend gut vertraut. Die beständige Wiederholung des Schma Jisrael, Höre Israel, schafft beim Volk Israel eine Verinnerlichung der gläubigen Überzeugung: Unser Gott ist wirklich der einzige. Es gibt keinen anderen. Und diesen Gott soll der Mensch lieben mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzer Kraft. Man mag sich fragen, wie soll das gehen, Gott zu lieben? Wie kann man jemanden lieben, der nicht fassbar, nicht sichtbar ist? Ich meine, Gott selbst weist den Weg. Im Menschen gibt es mehr oder weniger ausgeprägt eine Ahnung von dem, was die Menschen Gott nennen. Es sind der Wunsch und die Sehnsucht nach Leben, nach Liebe und Erfüllung, nach Ewigkeit. Manchmal ganz verborgen, manchmal ganz bewusst gläubig gelebt in der Nachfolge Christi. Die Menschen spüren, dass diese Welt nicht alles ist. Wer sich auf den Weg zu Gott macht, ihn mit ganzem Herzen sucht, den lässt er bei sich ankommen. Was in der Heiligen Schrift als Gebot gefasst ist, wird zum Weg zu einem erfüllten Leben. So wird das Gebot der Gottesliebe der Weg der Erfahrung von Liebe. Gott schenkt zuerst seine Liebe, seine Fürsorge. Wer sie dankbar annimmt, wird mit der tiefen inneren Gewissheit belohnt: Der Gott der Liebe hat mich ins Dasein gerufen, er hat durch den Tod am Kreuz den Weg zur Ewigkeit geöffnet. So erwächst ein Gefühl der Sehnsucht und Liebe nach Gott. Das ist viel mehr als ein abstraktes „Lieben müssen“. Gott ruft die Menschen zu sich. Wer sich öffnet für diesen Ruf, dem zeigt er auch den Weg zu sich.

Im heutigen Sonntagsevangelium heißt es weiter:
Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.

Jesus nennt noch ein zweites Gebot, das ebenso eine Herausforderung birgt. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Nach jüdischem Verständnis war der Nächste ein Angehöriger des eigenen Volkes, und selbst darin, ein Mitglied des eigenen Volkes zu lieben, liegt schon ein hoher Anspruch. Jesus weitet diesen Anspruch aber aus. Sein Gebot bezieht sich auf alle Menschen. An einer anderen Stelle spricht er sogar von der Feindesliebe. Was steckt dahinter? Einen wildfremden Menschen einfach so lieben zu können, ist gewiss schwer. Aber dennoch steht dieses Gebot da, direkt im Anschluss an das Gebot der Gottesliebe. Wer schon einmal in Israel gewesen ist, weiß hautnah um die aufgeladene Stimmung zwischen Israelis und Palästinensern, auch immer wieder zwischen Juden, Christen und Muslimen. Es herrscht eine Angst vor Terroranschlägen, eine Angst, selbst nicht genug Raum, nicht genug Möglichkeiten zu haben, letztlich leben die Menschen in einer beständigen Sehnsucht nach Frieden. Etwas an Nächstenliebe kann schon sein, im gegenseitigen Respekt voreinander zu leben, Gemeinsamkeiten zu suchen – wie etwa die Sehnsucht nach einem friedlichen Leben und einer Zukunft für die Kinder –. Einfach leben und leben zu lassen. Eine Fernsehsendung berichtete von einer Gruppe Menschen, die Juden, Christen und Muslime sind und die sich von Zeit zu Zeit zusammentun, um gemeinsam zu essen, zu singen und zu tanzen. Sie wollen der Welt zeigen: Es geht, Frieden ist möglich und alle sind Geschöpfe Gottes. Sie lenken ihre Energie nicht in die alltäglichen Auseinandersetzungen, die am Ende doch nichts bringen und den Unmut nur vergrößern. Sie wollen in ihren kleinen Möglichkeiten zeigen, dass es einen Weg gibt, wo ein Wille ist. Ich meine, sie gehen die Wege Jesu – bewusst oder unbewusst. Es ist ein guter Weg zu einem respektvollen Miteinander, wenn man überlegt, wohin man seine Energie lenkt: Sucht man Streit, geht es um Rechthaberei oder um die Lösung von Konflikten, um die Befriedung von Auseinandersetzungen? Manchmal reicht es schon aus, die Blickrichtung zu verändern: weg vom Streit, hin zum Frieden. Darin steckt schon der Weg zum Gebot Jesu, den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Und noch etwas fällt auf: Die Gebote der Gottes- und der Nächstenliebe sind eng miteinander verknüpft. Wer Gott liebt, kommt nicht umhin, den Nächsten in den Blick zu nehmen. Und umgekehrt: Wer sich um den Nächsten kümmert, ist schon auf dem Weg zu Gott. Der jüdische Schriftgelehrte im Lesetext des heutigen Gottesdienstes wirkt erstaunt von der Antwort Jesu:
Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.                                                           

Musik: Georg Friedrich Händel (1685-1759), Berliner Philharmoniker, Wassermusik, Titel 13 „Rigaudon“, Dauer: 2:31

Der Schriftgelehrte drückt mit seinen Worten noch einmal aus, wie er Jesus verstanden hat. Und er hat ihn gut verstanden! In seiner jüdischen Tradition wiederholt er die Worte Jesu: Gott ist der einzige Gott, es gibt keinen anderen außer ihm. Und ihn zu lieben – ich ergänze auch, ihn zu suchen – mit ganzer Kraft und mit ganzem Herzen und den Mitmenschen zu lieben wie sich selbst, ist mehr wert als alle Brandopfer. Mir kommt der Schriftgelehrte vor, als wenn er die Wege Jesu schon eingeschlagen hat. Er hat verstanden, worauf es ankommt. Gottesliebe geht über die Nächstenliebe, die Liebe zum Nächsten birgt schon die Liebe zu Gott in sich. Jesus ist hier das große Vorbild, das große Beispiel. Er hat in seiner bedingungslosen Liebe zu den Menschen sein Leben hingegeben. Er hat die Welt mit Gott versöhnt. Seine Liebe ist stärker als jeder Terror, jede Gewalt, jede Ungerechtigkeit, ja als der Tod selbst. Im heutigen Evangelium heißt es schließlich noch:
Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen.
Wer Gott und den Menschen liebt, wer sie sucht mit ganzem Herzen, ist nicht fern vom Reich Gottes. Diese Verheißung Jesu gilt allen, unabhängig von ihrer Konfession, von ihrer Herkunft, auch von ihrer Schuld. Auf den Wegen Jesu zu gehen, schafft Frieden und Versöhnung mit sich selbst, mit den Anderen und mit Gott. Sicher, es gibt den Anspruch und die Wirklichkeit. Beide klaffen auch in Israel auseinander. Um eine Lösung des Konfliktes zwischen Israel und Palästina wird weiter gerungen, aber auch hier muss gelten: Die Hoffnung bleibt bestehen.

Musik: Georg Friedrich Händel (1685-1759), Berliner Philharmoniker, Wassermusik, Titel 16 „Menuet“, Dauer: 2:26 

Jesus möchte den Frieden allen schenken, die nach ihm suchen, die sich auf seine Spuren begeben. Seine Fußspuren mögen riesig und unerreichbar sein, doch ist dort Platz für alle, die ihm folgen. In Jerusalem auf dem Ölberg habe ich eine kleine Kapelle besucht, die der Himmelfahrt Jesu geweiht ist. Direkt neben einer Moschee steht sie in friedlicher Nachbarschaft. In dieser Kapelle ist eine Steinplatte zu sehen, in der nach der Überlieferung die Fußspuren Jesu zu sehen sind. Dort soll er gestanden haben und in den Himmel aufgefahren sein. Er hat seine Fußspuren auch im übertragenen Sinn hinterlassen: Du sollst Gott und den Nächsten lieben wie dich selbst. Das ist das ganze Gebot. Du sollst Gott und den Nächsten  s u c h e n  wie dich selbst, so möchte ich etwas frei übersetzen. Sich auf die Spur Gottes begeben, das ist in Israel freilich ein eindrückliches Erlebnis. Aber Gott wartet überall auf den Menschen. In Frankfurt, in Eschwege, im Odenwald oder im Taunus. Im Krankenhaus, im Hospiz, im sozialen Brennpunkt oder in der Einsamkeit. Gott wartet überall. Er sucht die Hände und das Herz der Menschen, er führt einen über den Nächsten zu sich. Mit dem Evangelium dieses Sonntags lädt Gott ein, innezuhalten und nachzudenken: Wo ist im Leben noch Platz für Gott?  Wo kann ich auf den Spuren Jesu gehen? Wo kann ich beim Nächsten sein, der Hilfe und vielleicht ein gutes Wort braucht? Tief überzeugt bin ich: Wer auf dem Weg Jesu ist, kommt endgültig ans Ziel.

Musik: Georg Friedrich Händel (1685-1759), Berliner Philharmoniker, Wassermusik, Titel 18 „Coro: Menuet“, Dauer: 1:48

 

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