Warum Jesus kein Muttersöhnchen war
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Warum Jesus kein Muttersöhnchen war

Vera Langner
Ein Beitrag von Vera Langner, Evangelische Pfarrerin, Ober-Ramstadt

Musikkonzeption: Uwe Krause

Solange sie denken konnte, war sie am Muttertag ganz früh aufgestanden, war als kleines Mädchen heimlich aus dem Haus geschlichen mit Gummistiefeln an den Füßen. In der Hand trug sie eine Schere. Auf der nahe gelegenen Wiese schnitt sie dann wildwachsende Blumen und Kräuter ab. Daraus wurde ein bunter und üppiger Muttertags-Strauß. In manchen Jahren gab es herrliche Margeriten, Glockenblumen oder wilde Löwenmäulchen. Aber in anderen Jahren musste sie durch die feuchte Wiese weit laufen, um wenigstens ein bisschen was Blühendes zu finden. Sie wusste: Löwenzahn darf es auf keinen Fall sein! Denn Löwenzahnblüten hatte sie voll Freude nur einmal gepflückt, als sie fünf Jahre alt war. Der weiße Saft der Blumen war damals auf ihr schönes Kleid getropft, und Mutter war verärgert gewesen über diese Flecken, denn die gingen beim Waschen nicht mehr raus. Das hatte die Muttertags-Freude damals ziemlich getrübt. Inzwischen ist sie 50 und muss über die Erinnerungen von damals schmunzeln. Aber auch heute noch pflückt sie wie jedes Jahr einen Wildblumenstrauß am Muttertag. Denn sie weiß, Mutter mit ihren 78 Jahren freut sich immer noch mehr darüber, als über teure Blumen oder Pralinen aus dem Laden.
Muttertag steht heute im Kalender. Es ist kein kirchlicher Feiertag, aber ein Tag, der einlädt, an die eigene Mutter zu denken. Wie hat sie mein Leben geprägt? Welche Erinnerungen sind heute besonders deutlich vor Augen? Und was war vielleicht auch schwierig im Verhältnis zur Mutter?

Die „Erfinderin“ des Muttertags wollte einen öffentlichen Ehrentag, um die Leistung von Müttern zu würdigen. Sie wählte dazu den Todestag ihrer eigenen Mutter, die 1905 gestorben war. Anna Jarvis hieß die Erfinderin des Muttertags. Sie war als Frauenrechtlerin aktiv gewesen und wollte die Leistung von Frauen anerkennen, die als Mütter Tag für Tag von morgens bis abends schufteten, ohne dafür bezahlt zu werden. Anna Jarvis sorgte dafür, dass am zweiten Sonntag im Mai 1914 der Muttertag als nationaler Feiertag in den USA eingeführt wurde. Später kam er auch nach England, in die Schweiz, nach Norwegen und Schweden. In Deutschland hat der Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber den Muttertag ins Leben gerufen. Offiziell eingeführt wurde er im Jahr 1923. Der Muttertag entwickelte sich mehr und mehr zu einem Fest der Geschenke. Viele Unternehmer und Verkäufer witterten das große Geschäft. Diese Entwicklung hatte Anna Jarvis nicht beabsichtigt. Als sie verärgert vor Gericht zog, um den Muttertag in seiner kommerzialisierten Form wieder verbieten zu lassen, verlor sie den Prozess.
Bis heute ist der Sinn des Muttertags umstritten.
Brauchen wir heute überhaupt noch einen Muttertag? Schließlich gibt es inzwischen Waschmaschine und Trockner, die Kinderkrippe und engagierte Väter!
„Wenn du dich das ganze Jahr nicht bei mir meldest, brauchst du auch am Muttertag nicht anzurufen!“, so hörte ein Sohn seine verärgerte Mutter am Telefon.
„Wie schön, dass du am Muttertag immer an mich denkst und anrufst.“ So hörte es ein anderer Sohn, und auch er hatte sich schon lange nicht mehr bei seiner altgewordenen Mutter gemeldet.
Brauchen wir noch einen Muttertag?
Ich denke, er ist eine Einladung, über den Sinn oder Unsinn eines solchen Tages nachzudenken.
Ich nehme heute den Muttertag zum Anlass, eine besondere Mutter in den Blick zu nehmen, Maria, die Mutter Jesu. Ihre Mutterrolle war von Anfang an etwas speziell, und das Kind, das sie zur Welt brachte und großzog, hatte so seine Eigenarten. Auch war das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn bisweilen schwierig. Das alles können wir nachlesen in der Bibel. Wie Jesus als erwachsener Sohn auf seine Mutter reagierte, war für viele damals verwunderlich. Er ließ sie einfach stehen, tat so, als würde er sie nicht kennen, als sie gekommen war, um ihn nach Hause zu holen. War Jesus ein undankbarer Sohn? War Maria eine übergriffige Mutter? Nicht einfach zu beantworten – so wie bei vielen Mutter-Sohn-Beziehungen. Ich gehe dem Verhältnis von Jesus zu seiner Mutter nach und schreibe heute einen Muttertags-Brief an Maria, die Mutter Jesu.

Liebe Maria,
heute am Muttertag 2018 schreibe ich Dir einen Brief. Als Mutter von Jesus kenne ich Dich nur über die Geschichten aus dem Neuen Testament. Erst viele Jahre nach Deinem Tod wurden sie aufgeschrieben, und einiges davon erscheint uns heute sonderbar. Aber trotzdem kann ich mir gut vorstellen, dass es Dir als Mutter so ging, wie es bis heute vielen Müttern geht.
Jesus, den du vielleicht zärtlich Joschua genannt hast, war Dein erster Sohn. Jung wurdest du schwanger mit ihm. Als ganz normale Familie lebtet ihr später in Nazareth, dieser kleinen Stadt in den Hügeln von Galiläa. Du hast dann noch andere Kinder bekommen mit Josef, dem Zimmermann, Deinem Ehemann. Aber mit Deinem Ältesten hattest Du wohl die größten Probleme. Schon vor seiner Geburt hatte ein Engel zu Dir gesagt: „Er wird Sohn des Höchsten genannt werden.“ (Lukas 1,32) Was das heißt, hast Du erst später erfahren.
Mit etwa 30 Jahren ließ er sich taufen im Jordan von Johannes, dem Bußprediger in der Wüste. Und von dem Tag an war Dein Sohn wie verwandelt. Er war als Wanderprediger unterwegs, immer begleitet von Frauen und Männern, zum Teil aus zwielichtigen Kreisen. Merkwürdige Geschichten wurden über ihn erzählt, dass er ein Wunderheiler sei und ein Prophet. Manche hielten ihn sogar für den Messias, der Israel und alle Welt erlösen könnte. Dir kam das damals wohl alles ziemlich suspekt vor trotz deines Gottvertrauens.
Gemeinsam mit Deinen anderen Söhnen bist Du eines Tages aufgebrochen und zu ihm gelaufen. Du wolltest ihn zur Vernunft bringen und wieder nach Hause holen, da wo er hingehörte und die Werkstatt des Vaters hätte übernehmen sollen. Da sagte jemand zu Jesus: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir reden. Aber Jesus wollte von Dir und seinen Brüdern nichts wissen. Er ließ Dich einfach draußen stehen, hatte keine Zeit für dich, war wieder mal umringt von vielen Menschen. Und zu denen soll er gesagt haben: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ Und er streckte seine Hand aus über all die Männer und Frauen, die bei ihm saßen und sprach: „Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.“ (Matthäus 12,48-50)
Wie sehr mag Dich das verletzt haben? Du hattest ihn liebevoll großgezogen, aber dann machte er, was er wollte. Du hattest keine Macht mehr über ihn als Mutter, konntest ihn nicht mehr bewegen, das zu tun, was Du für richtig und sinnvoll hieltest. Er ging einfach seinen eigenen Weg. Und die Familie, die doch das Wichtigste war in Deinen Augen, spielte für ihn so gar keine Rolle mehr. Er hatte ein ganz anderes Bild von Familie. Er glaubte, alle, die auf Gott vertrauen, sind eine große Familie, und Gott ist ihr Vater. So betrachtet war die Familie nicht durch Biologie und Abstammung bestimmt, sondern durch den Glauben, und das war eine geistliche Ebene.
Du hast Dir Sorgen gemacht um Deinen Ältesten. Schließlich hatte er kein geregeltes Einkommen, er hatte nicht geheiratet und keine richtige Familie gegründet, wie es für die Versorgung im Alter doch notwendig war bei euch damals. Stattdessen predigte er den Leuten: „Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet. Auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?“ (Matthäus 6,25) Und dann sprach er über die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde. Die hatten doch auch alles, was sie brauchten zum Leben, meinte er. „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes“, sagte er „und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen, was ihr braucht an Nahrung und Kleidung. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.“
Er ist ein Träumer, wirst Du vermutlich gedacht haben. Er ist ein Spinner, werden seine Brüder vielleicht gesagt haben, als ihr wieder mal im Familienkreis zusammenkamt und er nicht dabei war. Wo sollte das noch hinführen?

Liebe Maria,
heute am Muttertag schreibe ich Dir einen Brief und merke, wie nahe Du mir kommst. Als Mutter von Jesus hast Du Dir große Sorgen gemacht um Deinen Ältesten. Er war so anders als andere. Er lebte anscheinend ohne Furcht und in einem großen Gottvertrauen. Aber am Ende sind Deine schlimmsten Befürchtungen zur Gewissheit geworden. Dein Sohn wurde zum Tode verurteilt als Aufrührer und Unruhestifter. Du musstest mit ansehen, wie die Römer ihn kreuzigten. Und da, als er schon am Kreuz hing, kümmerte er sich noch einmal um Dich. Du bist unter seinem Kreuz gestanden und neben Dir einer der Jünger von ihm. Da sagte Jesus zu Dir: „Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger, der dabei stand: Siehe, das ist deine Mutter!“ (Johannes 19,26) Und von der Stunde an hat dieser Jünger Dich Dich zu sich genommen. So steht es in der Bibel.
Es waren schreckliche Tage und Stunden, die Du damals in Jerusalem erleben musstest. Aber Du warst wohl niemals allein. Da waren jetzt Menschen für Dich da, die Du vorher nicht kanntest. Da entstand eine Gemeinschaft von Menschen, die alle verbunden waren in der Liebe zu Deinem Sohn. Und Du als Mutter hast ganz allmählich begriffen, dass hinter alldem Gottes Willen zu finden war. All die ungelösten Fragen, die Sorgen, der Schmerz bekamen einen Sinn, als Du auf das Leben Deines Sohnes und Dein eigenes Leben zurückgeblickt hast.
Mit all seinen Freunden und Freundinnen wirst Du lange gesprochen haben. Sie haben Dir dann Geschichten erzählt von Deinem Sohn, die Dir gutgetan haben. Er sei auferstanden und lebe, er sei aufgefahren in den Himmel zu Gott, seinem Vater.
Du konntest Dich darauf einlassen, mit diesen Jüngerinnen und Jüngern gemeinsam zu beten und zu warten. Zu warten nach all den Enttäuschungen, dass es eine Zukunft von Gott her gibt. Und dann kam sie, die heilige Geistkraft. Sie veränderte alles. Dir und allen, die offen waren für das kraftvolle Wirken der Liebe Gottes, brannte das Herz. Lebenskraft und Lebensfreude durchströmten Deinen Leib und Deine Seele ganz neu. Ihr wusstet alle nicht, wie euch geschah. So kann ich es mir vorstellen. An Pfingsten feiern wir bis heute diese Geistkraft von Gott, die alles verändert und die Menschen damals aufbrechen ließ. Wir nennen Pfingsten heute Geburtstag der Kirche und Du, Maria, warst damals dabei.
Mit Jesus hatte eine neue Zeit angefangen. Du bist seine leibliche Mutter, aber Gottes Geistkraft wirkte über die irdischen und leiblichen Verhältnisse hinaus. Diese Geistkraft war in den Schwachen mächtig, auch in Dir, und bewirkte Unglaubliches. Du konntest himmlische Worte in Deinem Herzen bewahren und bewegen. Engelsworte, Hirtenworte und Worte Deines Sohnes waren das. Du wurdest sicherlich im Alter eine weise Frau, auch wenn darüber nichts mehr in der Bibel steht. Und ich hoffe, Du konntest am Ende Deines Lebens in Frieden einschlafen. Irgendwie bleibt die Geschichte mit Deinem Sohn Jesus auch ein Geheimnis, nicht nur für Dich, sondern auch für mich.
Vielleicht wunderst Du Dich, Maria, dass wir bis heute diesem Geheimnis auf der Spur geblieben sind. Die Idee, dass Gott Mensch wurde und dazu eine Mutter brauchte, ist bis heute ziemlich einzigartig. Viele lassen sich auch heute noch leiten von dem, was durch Deinen Sohn Jesus in die Welt gekommen ist an göttlichen Worten, himmlischen Ideen und kraftvollen Taten. Aber eines ist dabei auch bemerkenswert geblieben. Nicht die traditionelle Familie war Deinem Sohn Jesus heilig, sondern allein der Wille Gottes und die Gemeinschaft, die dadurch entsteht, die göttliche Großfamilie sozusagen.
Heute am Muttertag 2018 habe ich Dir diesen Brief geschrieben, liebe Maria, und gemerkt, wie anders Du mir nahe gekommen bist, anders als durch die Weihnachtsgeschichte. Dein Sohn hat Dir keine Muttertags-Gedichte geschrieben, aber seine Liebe hat er mit Dir und allen Menschen geteilt. Dafür bin ich bis heute dankbar. Und Dir, seiner Mutter, wollte ich heute auch mal Danke sagen. Blumen für Dich stehen in vielen katholischen Kirchen. Von mir, der evangelischen Pfarrerin, sei einfach ganz herzlich gegrüßt. Gegrüßt seist Du, Maria!

Muttertag ist kein kirchlicher Feiertag, aber ich kann diesen Tag für mich neu deuten. Ich verdanke mein Leben nicht mir selbst. Es brauchte Vater und Mutter, um zur Welt zu kommen.
Im Sinne von Jesus verdanke ich mein geistliches Leben auch nicht mir selbst, sondern der Liebe Gottes. Sie ist wie ein gütiger Vater und wie eine starke Mutter, die für ihre Kinder sorgt.
So hatte es Jesus bei seiner Taufe gehört und begriffen: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“ So hörte Jesus bei seiner Taufe im Jordan die Stimme Gottes und die heilige Geistkraft, die von Gott her kam. Deshalb war er danach wie verwandelt. Deshalb fühlte er sich frei, auch Grenzen zu ziehen seiner leiblichen Mutter gegenüber. Er fühlte sich durch die Taufe und die Gottesbegegnung wie neu geboren.
Jesus hat es einmal so erklärt: „Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Was aus der Materie geboren ist, ist Materie; und was aus der Geistkraft geboren ist, ist Geistkraft.“ (Johannes 3,3 ff) So kann ich die Geistkraft heute als mütterliche Seite Gottes verstehen. Und der Muttertag ist für mich ein Anlass, Gott sei Dank zu sagen. Gott sei Dank für mein Leben, das ich nicht mir selbst verdanke.

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