Das Kreuz Christi – Schrecken und Trost
Bildquelle Pixabay

Das Kreuz Christi – Schrecken und Trost

Dr. Dr. h.c. Volker Jung
Ein Beitrag von Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt

Musikalische Konzeption: Uwe Krause

Wenn ich auf das Kreuz schaue, erschrecke ich und gleichzeitig ist es mein größter Trost. Schrecken und Trost – das klingt nach Widerspruch, ist es für mich aber nicht. Denn beide zusammen führen mich direkt ins Zentrum meines Glaubens. Da steht das Kreuz. Dieses zentrale Symbol des Christentums ist in nahezu jeder Kirche zu finden. Kreuze stehen auch an vielen Orten im Freien oder hängen in Häusern.
Manche Menschen finden das Kreuz abstoßend und fragen: „Warum stellt Ihr Christen ein so ärgerliches und beunruhigendes Symbol in den Vordergrund?“ Darauf will ich heute antworten. Denn das Kreuz ist auf das Engste verbunden mit dem heutigen Tag, dem Karfreitag. An diesem Tag wurde das Kreuz aufgestellt, an dem Jesus von Nazareth hingerichtet wurde. Er starb auf dem Berg Golgatha bei Jerusalem. Sein Tod ist eine Tragödie. Ich will sie erzählen. Danach möchte ich über den Schrecken des Kreuzes reden. Im dritten Schritt über den Trost, den ich im Kreuz finde.

Die Tragödie vom Tod des Jesus von Nazareth beginnt mit seiner Verhaftung. Er wird gefoltert, angeklagt, verurteilt und hingerichtet. Viele Menschen sind daran beteiligt. Alle hatten ihre Gründe. Sie hätten sich aber auch anders verhalten können. Warum haben sie es nicht getan? Was stand für sie auf dem Spiel?
Jesus hat Menschen provoziert und irritiert. Dabei klingt seine Botschaft gar nicht so: Jesus will das Vertrauen in die Liebe Gottes wecken. Er macht Mut, das Leben im Vertrauen auf Gott zu leben. Jede und jeder soll wissen, dass Gott jeden einzelnen Menschen liebt. Das klingt erst einmal so, als könnte dagegen niemand etwas haben. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: In dieser Botschaft steckt revolutionäres Potenzial.

Diese revolutionäre Botschaft provoziert vier Gruppen von Menschen:
Erstens: Wenn Gott alle Menschen liebt, dann sind vor Gott auch alle Menschen gleich. Alle gleich? Heute klingt uns das vertraut. Aber in einer Gesellschaft voller Sklaven, Untertanen und Kolonialherren ist das undenkbar. Da haben alle ihren festen gesellschaftlichen Status. Deshalb kommt es bei manchen gar nicht gut an, dass sich Jesus über soziale Grenzen hinweg mit allen Menschen abgibt. Er setzt sich an einen Tisch mit Ausgestoßenen, mit Sündern, Huren und korrupten Zöllnern der Kolonialmacht. Damit stellt er die geltende Rangordnung in Frage. Das mögen vor allem diejenigen nicht, die dabei etwas zu verlieren haben.
Zweitens: Jesus stellt die geltenden Gesetze und Gebote nicht in Frage. Aber er drängt darauf, sie in ihrem Kern zu verstehen. Für ihn sollen Gesetze den Menschen dienen, nicht die Menschen dem Gesetz. Für ihn ist zum Beispiel klar – wie für andere jüdische Lehrer auch –, dass Menschen in Not am Sabbat geholfen werden kann. Das macht er deutlich. Damit provoziert er diejenigen, die den Buchstaben des Gesetzes für das Wichtigste halten.
Drittens: Jesus stößt die Tische der Händler im Tempel um. Es ist ihm offenbar zuwider, wenn mit der Verehrung und Anbetung Gottes Geld gemacht wird. Das provoziert diejenigen, denen er das Geschäft kaputt macht.
Viertens: Manche Menschen betreiben den Tod Jesu auch, weil sie von Jesus zutiefst enttäuscht sind. Warum heilt er nicht alle, sondern nur einige? Was ist das für eine Botschaft, die Zeichen der Liebe Gottes setzt, aber die Gesellschaft nicht neu ordnet? Genau das haben manche erwartet: Einen politischen Umbruch. Menschen können sehr grausam sein, wenn ihre hohen Erwartungen enttäuscht werden. Wenn sie meinen: nur Worte, aber keine Taten.
Es gibt also einige Gründe, skeptisch oder gar ablehnend auf Jesus zu reagieren. Und in der Tragödie seines Todes trifft vieles aufeinander.
Ihren Anfang nimmt die Tragödie im Hohen Rat der Priester und Schriftgelehrten. Der Rat fühlt sich von Jesus provoziert. Sie könnten ihn als unbequemen Propheten sehen, als religiösen Mahner, mit dem sie diskutieren. Doch sie sehen ihn als Gotteslästerer, der verschwinden soll. Der Rat hat dabei allerdings ein Problem: Im römisch besetzten Israel darf nur einer ein Todesurteil fällen: der römische Statthalter Pilatus. Und der will eigentlich nicht. Warum gibt Pilatus trotzdem nach?

Der Hohe Rat möchte Jesus zum Tode verurteilt wissen. Er selbst kann dieses Urteil nicht aussprechen. Das kann nur der römische Statthalter Pilatus. Doch den interessieren innerjüdische Religionskonflikte nur am Rande. Er hat die Macht des römischen Reiches zu sichern. Deshalb bringt der Hohe Rat Jesus nicht als Gotteslästerer vor Pilatus, sondern als politischen Aufwiegler, als gefährlichen Revolutionär. Heute würde man sicher das Wort „Terrorist“ benutzen. Das muss Pilatus hellhörig machen. Er ist ein kluger Politiker. Zwei Dinge erkennt er schnell: Jesus ist aus seiner Sicht eher harmlos. Und: Es gibt starke Kräfte, die wollen unbedingt, dass Jesus verurteilt wird. Dafür wiegeln sie sogar das Volk auf. Auf dem Platz vor dem Palast des Pilatus haben sich offenbar viele versammelt, die Jesus provoziert, irritiert oder enttäuscht hat. Sie könnten jetzt nachdenklich werden und behutsam abwägen. Ruhe bewahren. Doch sie lassen sich vom Hass anstecken und schreien: „Kreuzige ihn!“. Die Stimmung vor dem Palast des Pilatus ist aufgeheizt. Nicht ungefährlich. Pilatus wägt ab: Ein Unschuldiger hier gegen eine kritische öffentliche Stimmung dort. Er entscheidet sich für die Befriedung der Straße. Er weiß, dass er damit Jesus nicht gerecht wird. Symbolisch wäscht er seine Hände in Unschuld und spricht das Todesurteil. Seine Soldaten erledigen das.
Viele Menschen beteiligen sich also daran, Jesus zu töten. Aber am Ende wird keiner von ihnen sagen: „Ich war’s.“ Jeder wird sagen: „Ich war doch nur ein kleines Rädchen im Getriebe.“ Oder: „Ich musste doch so handeln, ich konnte gar nicht anders“. Oder: „Wenn ich gewusst hätte, um was es hier wirklich geht, dann hätte ich mich ganz anders verhalten.“ Oder: „Konnte doch keiner ahnen, dass das am Ende dabei rauskommen würde.“ Oder: „Es hätte nichts genutzt, wenn ich allein mich dagegen gestellt hätte, ich hätte nur mich selbst in Gefahr gebracht.“ Oder: „Warum provoziert er auch so. Selbst schuld.“ Kaum einer würde sich ernsthaft eingestehen, dass er sich durchaus auch hätte anders verhalten können.
Aus heutiger Sicht ist es leicht, die damals Beteiligten dafür zu kritisieren. Doch davor will ich mich hüten. Ich erschrecke darüber, dass hier etwas geschieht, was immer wieder unter Menschen geschieht. Verdächtigung, Missgunst, Verleumdung, Neid, Hass richten sich gegen einen Menschen und vernichten ihn.

Wenn ich auf das Kreuz schaue, erschrecke ich. Ich erschrecke über den qualvollen Tod Jesu. Und darüber, wie Menschen den Tod herbeiführen. Ja – und darüber, dass dieses Kreuz beileibe nicht das einzige ist und bleibt. Bis heute. Alles, was damals zum Tode Jesu führte, geschieht auch heute noch.
Menschen verfolgen ihre Interessen. Wenn das zulasten anderer geht, blenden sie das gerne aus. Menschen lassen ihren Hass und ihre Enttäuschung an anderen aus. Wie verheerend sich das für die auswirkt, wollen viele gar nicht wissen. So geschieht immer wieder Schreckliches.
17 Millionen Kreuze im Ersten Weltkrieg: Vor 100 Jahren tobte dieser Krieg in Europa in seinem letzten Jahr. Und was haben am Ende alle beteiligten Regierungen gesagt? „Wir konnten doch nicht anders.“ „Die Situation erforderte es.“ „Wenn ich gewusst hätte …“ Und so weiter. Ein ganzer Weltkrieg – entstanden aus einer Mischung aus nationalen Interessen, Machtgehabe und Unvermögen, Konflikte anzugehen und zu lösen.
Und immer wieder ist es so, dass eine gefährliche Mischung von Macht und Interessen anderen Menschen schadet und zum Verhängnis wird. In Bangladesch und vielen anderen Orten leiden Menschen unter unwürdigsten Arbeitsbedingungen. Sie nähen in Fabriken Kleidung oder sie schürfen in Bergwerken nach Rohstoffen. Die Löhne sind oft nur Hungerlöhne, die Sicherheitsstandards sind katastrophal. Im Hintergrund stehen wirtschaftliche Interessen und der Wunsch nach preiswerter Kleidung in wohlhabenden Ländern. Und am Ende kommen Leid und Tod dabei heraus.
Ich sehe mit großer Sorge, wie auch in unserem Land die Bereitschaft gestiegen ist, hart und manchmal mit viel Aggression und Hass über andere zu reden. Wer sich öffentlich dafür ausspricht, sorgsamer mit geflüchteten Menschen umzugehen, wer sich dagegen stellt, dass rassistisch gedacht und geredet wird, muss damit rechnen, beschimpft zu werden – auch damit, Gewalt angedroht zu bekommen. Und manchmal werden aus Worten grausame Taten.

Viele Kreuze säumen die Geschichte der Menschheit – bis heute. Es ist schwer, auf diese Kreuze zu schauen. Dort ist so viel Schmerz und Leid und Elend. Und manchmal ist zu erkennen, dass wir auch irgendwie Schuld tragen an einigen der Kreuze.
Es ist wirklich nicht leicht, dafür die Augen zu öffnen. Aber das Kreuz Jesu lenkt den Blick genau dort hin. Es erinnert an alle, die leiden und sterben. Sie sollen gesehen werden.
Die Frau, die Opfer von sexueller Gewalt wurde und darüber zerbricht.
Der Mann, der krank wird und seinen Arbeitsplatz verliert.
Das Kind, das ohne Heimat und ohne Liebe aufwächst – mit traumatisierter Seele.
Das Kreuz erinnert an die Opfer von Revolutionen und Kriegen: Soldaten, Frauen, Kinder, Alte, eigentlich fast alle Menschen im Kriegsgebiet. Nur wenige profitieren, wenn mit Waffen Interessenkonflikte ausgefochten werden.
Das Kreuz Jesu richtet den Blick auf die politischen Gefangenen in den Diktaturen dieser Welt. Weggesperrt, weil Diktatoren ihre Macht sichern wollen.
Das Kreuz zeigt das Schicksal von Menschen, die auf lebensgefährlichen Wegen aus ihrer Heimat flüchten. Dabei alles aufgeben und nicht selten alles verlieren.
Das Kreuz steht schließlich für das Drama des Todes, dem kein Mensch entgehen kann. Jesus ist einer von ihnen, einer von uns.

Wenn ich auf das Kreuz schaue, erschrecke ich nicht nur über das Elend der Welt. Es ist gleichzeitig auch mein größter Trost. Ich weiß, das klingt eigenartig. Wie kann dieses schreckliche Ereignis zum Trost werden? Ich will versuchen, davon zu erzählen.
Folgen Sie mir dafür in Gedanken noch einmal zum Kreuz Jesu auf Golgatha. Die Bibel nennt einen Mann, der dort unter dem Kreuz steht. Er sagt etwas Bedeutsames.
Es ist ein Soldat, ein Hauptmann. Kein Beobachter der Szene. Er ist einer von denen, die die Hinrichtung auszuführen hatten. Als er sieht, wie Jesus stirbt, sagt er: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“

Der Hauptmann erkennt, dass hier etwas Besonderes geschieht. Der Hauptmann sagt unter dem Kreuz: Der Mann am Kreuz mehr ist als ein leidender und sterbender Mensch. Er schaut auf das Kreuz, schaut auf den Leichnam und sieht eine besondere Verbindung zu Gott. „Dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen“, sagt er. Eben noch hat er geholfen, Jesus zu verspotten, auszuziehen, zu schlagen und zur Hinrichtung zu bringen. Und dann plötzlich eine ganz andere Sicht. Ich höre in dem Satz beides: Tiefes Erschrecken und Hoffnung, die über den Tod hinausgeht. Der Hauptmann nimmt mit diesem Satz vorweg, dass die Geschichte des Jesus von Nazareth noch nicht zu Ende ist.
Leid und Tod sind harte Wirklichkeit. Am Kreuz von Golgatha, an vielen Orten in der Welt und auch am Ende unseres Lebens. Niemand kommt daran vorbei. Aber unter dem Kreuz Jesu entsteht eine Ahnung davon, dass der Tod nicht end – gültig ist. „Dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“ Was dies wirklich bedeutet, weiß der Hauptmann nicht, als er das sagt. Auch diejenigen nicht, die mit bei Jesus waren, und jetzt seinen Tod beklagen. Sie erfahren es später, als ihnen Jesus neu begegnet – vom Tod auferstanden.
Wenn ich auf das Kreuz schaue, erschrecke ich – über das Unrecht, das Leiden und den Tod in dieser Welt. Und zugleich suche ich Trost darin, dass im Leiden von Jesus Gott selbst da am Kreuz ist. Gott selbst – tief drin im Leiden dieser Welt, aber nicht darin verloren. Gott wird das Grab öffnen.
Diese Hoffnung hilft mir, den Tragödien unserer Tage besser standzuhalten. Wenn ich im Gekreuzigten Gott erkenne, den Lebendigen, den Ewigen, dann weiß ich: Der Tod hat nicht das letzte Wort. Dann kann ich auch die Kreuze dieser Welt anschauen, ohne zu verzweifeln. Ich muss nicht wegschauen. Ich muss Leid nicht ignorieren oder verdrängen – eigenes Leid und fremdes Leid. Ich kann mich ihm zuwenden in der Hoffnung, dass kein Leid dieser Welt endgültig ist.
Diese Hoffnung gibt mir Zuversicht zu fragen: Was kann ich tun, damit nicht noch mehr Kreuze aufgestellt werden?
Ich bin überzeugt: Ich kann hinschauen, ich kann mitfühlen und dem entgegentreten, was Menschen leiden lässt. Das hat Christinnen und Christen im Zeichen des Kreuzes immer wieder bewegt. Deshalb haben sie sich um Kranke gekümmert, Sterbende versorgt, Tote bestattet. Heute klingt das wie selbstverständlich. Doch das war es nicht immer. Und es ist es auch heute noch nicht überall – wenn Kranke und Sterbende unversorgt bleiben, wenn Menschen ihrem Schicksal überlassen werden, wenn Menschen getötet werden.
Mitgefühl mit den Leidenden – das treibt Christinnen und Christen um. Im Zentrum des Glaubens steht das Kreuz. Deshalb schmerzt besonders das Schicksal der Menschen, die Gewalt erfahren – durch Verbrechen, Terror, Krieg, Verfolgung, Vertreibung, Flucht und manches andere.
Ich bin überzeugt: Im Zeichen des Kreuzes darf das Mitgefühl mit dem Leiden aller Menschen nicht verloren gehen. Sonst verlieren wir etwas elementar Menschliches. Jesus starb wie sie und für sie.
Mit ihm schaue ich auf das Leiden in dieser Welt. Mit ihm hoffe ich darauf, dass Gottes Liebe größer ist als Leiden und Tod. Deshalb: Wenn ich auf das Kreuz schaue, erschrecke ich. Und gleichzeitig ist es mein größter Trost.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren