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Meine jüdischen Wurzeln
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Meine jüdischen Wurzeln

Beate Hirt
Ein Beitrag von Beate Hirt, Senderbeauftragte der katholischen Kirche beim hr, Frankfurt
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Ich bin Christin, Katholikin, und meine Glaubenswurzeln: die haben natürlich viel mit meiner christlichen Heimat zu tun, mit meiner Familie, mit der Gemeinde, in der ich groß geworden bin. Aber manche Wurzeln meines Glaubens: Die liegen viel weiter weg. Sie haben mit fernen Orten zu tun und frühen Zeiten und auch mit einer anderen Religion. Wie sehr meine Wurzeln auch jüdische Wurzeln sind, das ist mir letzten November wieder besonders klar geworden.

Reise nach Israel und Palästina

Ich war in Israel und Palästina auf Reise. Und dort ist mir noch einmal bewusst geworden: Mein christlicher Glauben wurzelt natürlich auch in den Wurzeln des Jesus von Nazareth. Dort in Galiläa, Judäa und Jerusalem hat er gelebt, dort ist er groß geworden, hat seine Botschaft verkündet, als jüdischer Mensch in damaliger Zeit. All das, was dieser Jesus als Jude erlebt und verkündet hat, seine Heimat, seine heiligen Schriften, sein Gottesbild – all das ist auch in meinen Glauben eingeflossen. Seine jüdischen Wurzeln gehören zu meinen christlichen Wurzeln. Das hat mich in den letzten Monaten neu fasziniert, und davon möchte ich heute in der Morgenfeier erzählen.

Jesaja und Händels "Messias"

Auch in der Musik will ich an die jüdischen Wurzeln meines Glaubens anknüpfen. Für mich werden sie zum Beispiel hörbar in Händels großem Werk Messias. Die Geschichte von Jesus, dem Erlöser und Gesalbten: Sie wird dort fast ausschließlich mit Zitaten aus dem Alten, dem Ersten Testament erzählt. Vor allem mit Zitaten aus dem Propheten Jesaja.

Musik 1: Georg Friedrich Händel, Messiah, Comfort ye (CD: Händel, Messiah, Nikolaus Harnoncourt, Arnold Schoenberg Chor, Concentus Musicus Wien, CD 1, Track 2, bis ca. 2.40).

„Tröstet, tröstet, mein Volk, spricht euer Gott“, so beginnt Händel sein Werk über den Messias. Mit einem Zitat aus dem Propheten Jesaja (Jesaja 40,1). Und mit einem Zitat aus Jesaja beginnt Jesus vor fast zweitausend Jahren auch sein öffentliches Wirken: „Der Geist des Herrn ruht auf mir. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe.“ (Lukas 4,18) Es ist eine durch und durch tröstliche und liebevolle Botschaft, die Jesus den Menschen bringt. Und sie geht zurück auf einen durch und durch liebevollen Gott. Ein Gott, der die Nöte der Menschen kennt und der sie retten will. Ein Gott übrigens, der schon bei Jesaja „Vater“ genannt wird, und der bei Hosea Israel lieb gewinnt wie einen Sohn. Gott spricht da: „Ich war für sie wie einer, der einen Säugling an seine Wange hebt. Ich beugte mich zu ihm und gab ihm zu essen.“ (Hosea 11,4) Voller Nähe und Zärtlichkeit ist dieses Bild von Gott. Und mit diesem Gottesbild geht Jesus auf die Menschen zu. Er beugt sich zu ihnen, er hört ihnen zu, er heilt sie. Ohne dieses Gottesbild aus den Prophetenbüchern Jesaja und Hosea ist der Glaube Jesu nicht denkbar. Und meiner auch nicht.

Der Gott dieses Jesus von Nazareth war liebevoll

Ehrlich gesagt irritiert es mich deswegen immer mal wieder, wenn – zum Beispiel an Weihnachten - in manchen christlichen Predigten von einem vollkommen neuen Gottesbild die Rede ist. Die alten Gottesbilder seien an Weihnachten revolutioniert, auf den Kopf gestellt worden, heißt es da. Und ich erschrecke, ehrlich gesagt, auch ein wenig über solche Sätze. Natürlich, mit Jesus hat für mich als Christin etwas Neues begonnen. Aber auch der Gott dieses Jesus von Nazareth war schon ein naher, liebevoller Gott. Und es war und ist gefährlich, wenn Christen so tun, als sei der Gott vor Weihnachten ein völlig anderer. Ein ferner, allmächtiger, womöglich sogar: grausamer. Hier der Gott des Alten Testaments und der Juden – und da nun der Gott des Neuen Testaments und der Weihnachtsgeschichte. Wenn die Gottesbilder so voneinander getrennt werden, kann das dazu führen, dass aus dem Blick gerät: Jesus selbst war doch Jude, er hatte seine Wurzeln in diesem Gottesbild der jüdischen Tradition. Im schlimmsten Fall kann es sogar dazu führen und hat es dazu geführt, dass Juden herabgewürdigt oder sogar verfolgt werden.

Jüdische Nächstenliebe

Das Gottesbild, das mich als Christin prägt, es ist für mich ganz entscheidend das Gottesbild, das dieser Jesus von Nazareth gelebt und verkündet hat. Und auch die wichtigsten Sätze und Gebote meines christlichen Glaubens sind tief verwurzelt in dem, was der Jude Jesus geglaubt und befolgt hat. „Welches Gebot ist das erste von allen?“ wird Jesus einmal gefragt (vgl. Markus 12,28). Und er antwortet nicht revolutionär, sondern ganz und gar als frommer Jude: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft.“ Johann Sebastian Bach hat dies in eine seiner Kantaten vertont.

Musik 2: Johann Sebastian Bach, Du sollt Gott, deinen Herren, lieben BWV 77 (CD: Bach Cantatas, Bach-Ensemble, Helmuth Rilling, Track 1, bis ca. 2.10).

Was ist typisch für das Christentum? Viele werden sagen: Die Nächstenliebe. Die ist das wichtigste christliche Gebot und doch nun wirklich etwas Neues und Besonderes, Mancher würde die Nächstenliebe heutzutage gerne direkt mit dem christlichen Europa und Abendland verbinden. Aber daher stammt sie nicht. Die Nächstenliebe ist viel älter, und sie kommt aus dem Nahen und Ferneren Osten. Sie findet sich schon in der Heiligen Schrift des Judentums, der Tora. So wenig, wie der christliche Glaube einen ganz neuen Gott erfunden hat, so wenig hat er ein ganz neues Gebot erfunden.

"Höre Israel!"

Als Jesus von den Schriftgelehrten gefragt wird: „Welches Gebot ist das erste von allen?“ Da antwortet er zunächst: „Das erste ist: ‚Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft.‘“ Und dann sagt Jesus weiter: „Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘“ (Markus 12,28-31) Die Schriftengelehrten sind nach dieser Antwort Jesu überhaupt nicht überrascht, sondern sagen: „Sehr gut, Meister. Ganz richtig hast du gesagt.“ Denn sie kennen diese Antwort, Jesus hat aus der Tora, den fünf Büchern Mose zitiert (vgl. Deuteronomium 6,4-6; Levitikus 19,18). Das Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe war im damaligen Judentum bekannt als Quintessenz aller Gebote. Es ist nichts revolutionär Neues oder Christliches – es ist ein Gebot, das seine Wurzeln tief im Judentum hat.

Was mir als Christin heute bei dieser Antwort Jesu besonders auffällt: Nicht die berühmte Nächstenliebe allein wird da genannt. Als erstes zitiert Jesus das „Höre, Israel!“, „Schema Israel“, heißt das auf Hebräisch. Und es ist bis heute das Herzensgebot des jüdischen Glaubens. Es ist das zentrale Gebet, aufgeschrieben auch in den jüdischen Gebetsriemen, den Tefillin; jeden Morgen und jeden Abend wird es von frommen Juden gesprochen. Auch für Jesus damals war dieses Höre Israel das wichtigste Gebet und Glaubensbekenntnis. Ich finde es schade, dass es in meiner christlichen Tradition viel weniger bekannt ist als das Gebot der Nächstenliebe. Obwohl Jesus es ja auch seinen Jüngerinnen und Jüngern als zentrales Gebot mitgegeben hat, obwohl es also zu den zentralen jüdischen Wurzeln meines christlichen Glaubens gehört. Es sind Sätze, die ich neu für mich entdeckt habe und regelmäßig bete: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft!“ Hier erklingen sie in einer Vertonung des deutsch-jüdischen Komponisten Louis Lewandowski.

Musik 3: Louis Lewandowski, Schema Israel, Oberkantor Estrongo Nachama, Rias-Kammerchor, Uwe Gronostay (CD: Impulse Musik, Wege des Glaubens, Klangbeispiele, Track 27, ca. 3.16).

Traditionen wahrnehmen

Manchmal kommt mir der Gedanke: Was wäre wohl gewesen, wenn sich die Christinnen und Christen vergangener Jahrhunderte mehr auf ihre jüdischen Wurzeln besonnen hätten? Wenn sie dieses „Höre Israel, Schema Israel“ als Erbe des Judentums und als gemeinsame Tradition wahrgenommen hätten? Vielleicht wäre es schwieriger geworden, Jüdinnen und Juden als Feinde zu sehen. Und sogar: als Menschen, die man vernichten darf, die gar keine richtigen Menschen sind. Als Christin in Deutschland habe ich heute natürlich auch die Shoah, die Ermordung von sechs Millionen Juden mit im Kopf, wenn ich an meine jüdischen Wurzeln denke.

Konzentrationslager und Reichspogromnacht

Mit dem „Schema Israel“ auf den Lippen sind Juden in Konzentrationslagern in den Tod gegangen. Es ist unfassbar, was Christen Juden angetan haben in der Zeit des Nationalsozialismus. An diesem Wochenende wird wieder besonders daran erinnert: Gestern, am 27. Januar, vor 73 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit, das größte Vernichtungslager der Nazis. Und im kommenden November sind es 80 Jahre, dass bei der Reichspogromnacht jüdische Geschäfte und Synagogen in Brand gesteckt wurden. Immer wieder gedenken und sich erinnern: Das ist für mich nicht nur Bürgerpflicht, sondern auch Christenpflicht.

Und zu den Konsequenzen aus dieser furchtbaren Vernichtung gehört für mich auch:  sensibel zu sein für die gemeinsame Tradition von Judentum und Christentum. Meine jüdischen Wurzeln zu würdigen und zu pflegen. So wie das die katholische Kirche als ganze seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch immer mehr tut. Im Dokument „Nostra aetate“ von 1965 heißt es: „Da also das Christen und Juden gemeinsame geistliche Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern.“ (NA 4) Jüdinnen und Juden sind unsere „älteren Geschwister“, so sagen es die Päpste seit Johannes Paul II. immer wieder. Das gemeinsame geistliche Erbe ernst nehmen: Das hat zum Beispiel auch Einfluss auf die Weise, wie wir als Christen zu Gott beten, welchen Namen wir ihm geben. „Adonai“, Herr, so lautet einer der wichtigsten Anreden Gottes im Hebräischen. Zu hören zum Beispiel in den „Chichester Psalms“ von Leonard Bernstein.

Musik 4: Leonard Bernstein, Chichester Psalms, Psalm 23 (CD: Leonard Bernstein, Chichester Psalms – Symphonies Nos. 1&2, Wiener Jeunesse-Chor, Israel Philharmonic Orchestra, Leonard Bernstein, Track 2, bis ca. 2.10).

Den Gottesnamen nicht aussprechen

Es ist fast zehn Jahre her, da gab es einen Rundbrief aus dem Vatikan bzgl. des Gottesnamens in den katholischen Gottesdiensten. In dem Schreiben vom Juni 2008 heißt es: „Man darf den Namen Gottes nicht in der Form des Tetragramms YHVH aussprechen.“ Das Rundschreiben damals ging zurück auf eine Bitte des römischen Oberrabbiners an Papst Benedikt. Der Oberrabbiner erzählte danach: Benedikt habe sich sein Anliegen „sehr aufmerksam und bereitwillig angehört und gesagt, dass es sich da tatsächlich um eine Abweichung von der Tradition handle.“ Die Tradition im Judentum wie im Christentum lautet: Der Name Gottes wird aus Ehrfurcht vor der Heiligkeit Gottes nicht ausgesprochen. In Deutschland hatte dieses römische Rundschreiben aber erst einmal keine Konsequenzen, viele haben davon noch nie gehört. In den katholischen Gottesdiensten hierzulande wird der Gottesname immer noch ausgesprochen. Aber, immerhin, nicht mehr lange.

Neue katholische Bibelübersetzung: sensibel für das gemeinsame Erbe

Denn seit 2016 gibt es eine neue katholische Bibelübersetzung. Und eine der großen Änderung im Vergleich zur Übersetzung von 1980 ist: Der Name Gottes wird nicht mehr ausgeschrieben und gesprochen. „HERR“ steht dort jetzt, wie übrigens schon länger in der Lutherbibel, „HERR“ mit Großbuchstaben, denn es markiert: Hier ist von einem heiligen Namen, von einem unaussprechlich großen Gott die Rede. In diesem Jahr soll diese neue katholische Bibelübersetzung auch in die Bücher der Gottesdienste, in die liturgischen Bücher eingehen. Dann wird dieses gemeinsame geistliche Erbe in den biblischen Lesungen im Gottesdienst zu hören und zu erfahren sein.

Auch an anderen Stellen der Bibel ist man in der neuen Übersetzung sensibler für das gemeinsame Erbe und auch gegenüber antisemitischen Anklängen. Zum Beispiel ist im Römerbrief nicht mehr von der „Verwerfung“ der Juden die Rede, sondern von einer zeitweisen „Zurücksetzung“.

Jüdische Wurzeln pflegen

Vielleicht klingen solche Übersetzungsänderungen für manchen banal, andere wehren sich gegen solche Änderungen am Bibeltext. Für mich sind sie wichtig und gut. Sie drücken für mich eine Treue zu meinen Wurzeln aus. Wenn ich in der Bibel lese, wenn ich im Gottesdienst bete: Dann soll auch mein jüdisches Erbe zu hören sein, es soll meinen Glauben mitprägen. Dieser Jesus von Nazareth damals, er ist mir Vorbild und Retter, und er ist für mich Sohn Gottes, das unterscheidet meinen Glauben von dem meiner jüdischen Geschwister. Aber er ist eben auch Jude gewesen, sein Gottesbild, seine Art zu beten und zu glauben, die sind für mich ungemein wichtig. Ich will diese jüdischen Wurzeln pflegen und lebendig halten.

Musik 5: Yevarekhekhá, Aviva Semadar (CD: Impulse Musik, Zeit der Freude, Klangbeispiele, Track 25, ca. 2.10).

Literaturhinweise:

Wilhelm Bruners, Wie Jesus glauben lernte. Freiburg 2006.
Katrin Brockmüller, Die neue Einheitsübersetzung entdecken. Stuttgart 2017.

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