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Der Känguru- und der Eisbär-Typ an Weihnachten
Bild: gettyimages/Eskemar

Der Känguru- und der Eisbär-Typ an Weihnachten

Stefan Claaß
Ein Beitrag von Stefan Claaß, Evangelischer Pfarrer und Professor, Theologisches Seminar Herborn
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Auf einer Postkarte habe ich zwei Szenen gesehen. Ein kleines Känguru sitzt auf einer Eisscholle und friert erbärmlich. Darunter sieht man einen kleinen Eisbär. Er sitzt im Beutel eines Mutterkängurus und übergibt sich gerade heftig. Darunter steht: „Blöder Schüleraustausch!“ Ich finde diese Karte witzig. Nicht jede Umgebung passt zu mir, da kann ich mich auch ganz schön vertun. In meinem Freundeskreis gibt es an Weihnachten auch zwei Typen. Ich nenne sie die Kängurus und die Eisbären.

Die Kängurus sind Beuteltiere. Sie packen an Weihnachten Kinder und Geschenke alle in ihren Beutel und auf geht´s zur Verwandtschaft. Am ersten Feiertag zu meiner Familie, am zweiten Feiertag zu deiner Familie. Oder zu Freunden. Feiertage sind Tage zum Feiern. Zusammensitzen, essen und trinken und sich hinterher schwer fühlen. Schön ist das für Beuteltiere, sie genießen das. Ganz anders die Eisbären unter meinen Freunden. Sie sitzen gerne allein auf ihrer Scholle und freuen sich über die Ruhe. Schön ist das für solche Eisbären, sie genießen das: Feiertag ist ein freier Tag! Das wäre an sich kein Problem. Aber leider sind bei den Menschen nicht immer Kängurus mit Kängurus verwandt und Eisbären mit Eisbären. Da gibt es so etwas wie den Schüleraustausch von der Postkarte. Mein Freund Martin ist Känguru, aber mit Anne verheiratet, einer Eisbärin. Er packt den Beutel, lädt die ganze Familie zu sich nach Hause ein oder fährt mit vollbeladenem Auto zur Verwandtschaft. Anne zeigt sich oft tapfer solidarisch, aber manchmal will sie lieber auf ihrer Scholle bleiben. Und jedes Jahr im Advent debattieren sie am Frühstückstisch darüber, was dieses Jahr an Weihnachten dran ist. „Weihnachten ist das Fest der Familie!“, sagt er. „Ja“, sagt sie, „aber findest du nicht auch, dass es schön wäre, wenn wir mal für uns bleiben könnten? Weihnachten ist freie Zeit, ich will nach den ganzen anstrengenden Wochen mal meine Ruhe haben.“

Was meinen Sie, die Sie jetzt zuhören? Sollen die beiden sich auf eine gemeinsame Linie für den zweiten Feiertag einigen? Oder soll er losfahren und sie bleibt zu Hause? Kann ich mich an Weihnachten freimachen vom Druck, den ich empfinde? Darf ich das? Oder sollte ich mich überwinden, anderen zuliebe?

Wie sehen Sie das bei sich? Zu welcher Gattung gehören Sie: eher zu den Eisbären oder eher zu den Kängurus? Ich melde mich wieder nach der Musik.

Känguru oder Eisbär? Sind Sie zu einer Klärung gekommen, zu welcher Gattung Sie sich rechnen? Sind Sie eher der Typ, der die ganze Familie an den Weihnachtsfeiertagen einpackt und auf Besuche fährt. Oder der Typ, der lieber für sich auf seiner Scholle bleibt. Wenn Sie mich fragen: Ich bin zuerst Eisbär. Darf ich das? Manchmal denke ich, das ist egoistisch. Der Druck, ein Känguru zu sein, ist an Weihnachten besonders hoch. Und da liegt das eigentliche Problem. Im Druck der Erwartungen.

Anders gesagt: Ich bin kein ungeselliger Problembär. Ich hab nur etwas gegen den Druck, gegen die Erwartung, ich müsste an Weihnachten doch anders sein.

Vielleicht empfinden manche von Ihnen das Wort „Erwartungen“ positiv. Ich nicht. Ich muss an jemanden denken, der mich immer damit genervt hat. Nach einer Gemeindeveranstaltung oder einem Gottesdienst kam er an und sagte: „Ich hätte eigentlich von Ihnen erwartet…“ Ich habe ihm entgegnet: „Wenn Sie das vorher wissen, können Sie mir das auch vorher sagen. Hinterher können Sie es gern für sich behalten.“

Das gilt übrigens im umgekehrten Fall genauso für die Kängurus. Die kennen auch Erwartungsdrucken. Sie haben Lust auf ein volles Haus, Klönen mit Freunden und Verwandten. Und dann heißt die unangenehme Erwartung vielleicht: „Komm doch mal zur Ruhe! Spann aus! Sei ein Eisbär!“

Das Problem sind die Erwartungen. Ausgerechnet an Weihnachten. Ich finde, das passt gar nicht zu diesem Fest. Weil Gott selbst an Weihnachten ganz und gar nicht die Erwartungen der Menschen erfüllt hat. Wen hätten sie denn gern empfangen?

Wenn Gott vorher eine Umfrage gemacht hätte unter den Menschen, wäre sicher eine andere Gestalt herausgekommen als Jesus von Nazareth. Jemand. Ja, ein Jemand: mächtig, schön, reich, anbetungswürdig. Oder kämpferisch, der es den anderen mal zeigt. Eine Mischung aus Luke Skywalker, Albert Schweitzer und König Salomo. Wahrscheinlich wäre Gott heute noch mit der Auswertung der Umfrage beschäftigt. Aber Gott hat sich frei gemacht von Erwartungen.

Freimachen von Erwartungen. Das ist schön. Das tut gut. Vor allem, wenn es konkret und praktisch wird. Ganz oft stellen sich vor Weihnachten Gedanken über die Erwartungen der anderen ein: Wer erwartet Post? Einen Besuch? Zuwendung? Erwartungen zu erfüllen macht mir wenig Freude. Vor ein paar Jahren habe ich mich getraut und überhaupt keine Post vor Weihnachten verschickt. Aber ich habe welche bekommen. Ich hab das ausgehalten. Und nach Weihnachten, da hatte ich plötzlich Lust, darauf zu reagieren. Weil es keiner erwartet hat.

Eben habe ich Ihnen erzählt, dass ich wenig Lust habe, an Weihnachten Leute zu besuchen, die das erwarten. Vielleicht halten Sie mich jetzt für ein bisschen egoistisch. Aber ich halte dagegen: Die würden doch merken, wenn ich das nur aus Rücksicht oder Pflichtgefühl mache. Wenn ich im Herzen ein Eisbär bin, also einer, der lieber für sich auf seiner Scholle bleibt, aber mich als Känguru verkleide, also als jemand, der gerne in der Weihnachtszeit durch die Gegend hüpft und alle Leute besucht. Die Menschen, an die ich denke, die merken das. Ich glaube, dass sie und ich mehr davon haben, wenn ich ihnen schreibe oder sie besuche, und sie spüren, dass ich das selber gut finde. Das merken sie nämlich auch: Ab und zu bin ich gern Känguru. Schüleraustausch, sozusagen.

Die Freiheit nehme ich mir. Weil Gott an Weihnachten nicht einfach unsere menschlichen Erwartungen erfüllt hat, muss ich das auch nicht.

Und jetzt schaue ich voraus und sehe: Diese Freiheit wirkt weiter. Ich treffe seit Jahren keine Verabredungen mehr für die berühmte Zeit zwischen den Jahren.

Sie ist so schön! Aber leider kurz. Und jeder hatte im Advent schon den Satz auf den Lippen: „Zwischen den Jahren treffen wir uns mal!“ „Geht nicht“, sage ich jetzt immer, „tut mir leid!“ Aber das tut es eigentlich nicht. Umso schöner ist es, wenn ich mich zwischen den Jahren spontan mit Menschen treffe, die mir gerade in den Sinn kommen.

Für mich sind die Tage nach Weihnachten eine Zeit, um über Erwartungen nachzudenken, die andere an mich haben. Oder ich selber an mich. Und dann sortiere ich. Weihnachten macht frei. Die zwei berühmtesten Fragen zum Thema Freiheit heißen ja: Freiheit wovon? Und Freiheit wofür? Weihnachten macht frei davon, immer nur Erwartungen zu erfüllen. Und Weihnachten macht frei dafür, anderen frei-willig etwas Gutes zu tun. Weihnachten macht frei von dem Gedanken, ich müsste anders fühlen und leben, als ich es empfinde. Weihnachten macht frei dafür, ehrlich zu sein. Wenn ich Eisbär bin, bin ich Eisbär. Und wenn ich Känguru bin, bin ich Känguru. Und manchmal habe ich Lust, das Fell zu wechseln.

Nicht weil es erwartet wird, sondern weil Gott mir beides schenkt: Lust auf Ruhe und Lust aufs gemeinsame Feiern. Das ganze Fest macht umso mehr Freude, je weniger Druck ich verspüre. Druck, das zu tun, was andere erwarten. Ich gebe zu: Ich bin von Natur aus eher Eisbär. Aber wenn mich die Lust packt, dann werde ich zum Känguru, packe meinen Beutel voll mit Zeit und Energie und gehe auf Tour. Das Fest mag heute zu Ende gehen. Aber die Weihnachtszeit hat für mich erst begonnen. Ich wünsche Ihnen einen frohen Feiertag, einen frohen Freiheitstag!

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