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Passionspunkte
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Passionspunkte

Hermann Trusheim
Ein Beitrag von Hermann Trusheim, Evangelischer Schulpfarrer, Hanau
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Mit dem Aschermittwoch hat die Passionszeit begonnen, sie wird bis zum Oster­morgen dauern. In der Passionszeit erinnern sich Christen an die Leidenszeit Jesu. In vielen Sonntagsgottesdiensten geht es dann um Jesu leidenschaftlichen Einsatz für das Reich Gottes, das er verkündet – in Jesus stellt Gott sich an die Seite der Menschen. Jesus geht mit durch alle Lebenserfahrungen, sogar durch den Tod.

Wird das in meinem Alltag spürbar? Dass Jesus dabei ist? Die Evangelische Stadt­kirchengemeinde Hanau hat sich diese Frage gestellt. Ein neues Andachtsangebot mit dem Namen ‚Passionspunkte‘ will Jesu Begleitung in den eigenen Lebenser­fahrungen nachgehen.

Die Andachten finden an öffentlichen Orten in Hanau statt. Sie laden dazu ein, einen Moment stehen zu bleiben und sich den ‚Passionspunkten‘ zu stellen. Passions­punkte – das sind ‚wunde Punkte‘, die oft für Leid stehen, aber auch für Hilfe im Leid. In der Geschichte der Stadt oder der eigenen Lebensgeschichte. Andachten an öffentlichen Orten in der Stadt.

Wie zum Beispiel die Überreste der ehemaligen Mauer des jüdischen Ghettos, das Hospiz, oder auch das Frauenhaus.

Jedes Jahr haben die ‚Passionspunkte ein anderes Motto. Dieses Jahr geht es um ‚Würde‘. Würde ist ein wunder Punkt Würde kann verletzt werden, Würde braucht Fürsorge.

Als Schulpfarrer gestalte ich mit Schülerinnen und Schülern einen Passionspunkt vor dem Tor der Hohen Landesschule. Wir haben das Thema für uns passend formuliert: es geht um ‚Würdevoll lernen‘.

Was bedeutet ‚Würde‘ für die Schülerinnen und Schüler? Schnell stehen an der Tafel die Worte ‚Respekt‘ - ‚Ehre‘ und ‚Achtung‘. Am häufigsten fällt der Begriff ‚Menschenwürde‘, den kennen die Schüler schon aus anderen Fächern wie Politik und Geschichte.

Ich erkläre, dass die Würde des Menschen für Christen im Schöpfungsbericht aus­gedrückt wird – Gott schafft den Menschen zu seinem Ebenbild. Das bedeutet, jeder Mensch wird von Gott als jemand ganz Besonders angesehen. In jedem Menschen soll sich Gottes Liebe zur Schöpfung spiegeln. Liebevoll behandelt werden und selbst liebevoll handeln soll dem Menschen zu Eigen sein.

So weit ist ‚Würde‘ klar – aber was soll ‚würdevoll lernen‘ bedeuten? Die erste Stunde ist fast zu Ende, Tristan meldet sich. Ihm ist was dazu eingefallen.

‚Ich würde voll lernen, wenn’s Spaß machen würde.‘ Alle lachen. Ich auch. Spaß und Freude - gehört das zum würdevollen Lernen dazu? - Nach all‘ den ernsten Über­legungen ist Tristans Antwort auch ein Zeichen dafür, dass wir eine Pause brauchen.

Würdevoll Lernen? Als Ort für unsere Andacht haben wir das altehrwürdige HOLA-Tor ausgesucht. Ein mächtiger Bogen aus Sandsteinquadern, mit Figuren und Wap­pen geschmückt. Dieser Torbogen stand schon vor dem ersten Schulgebäude vor über 400 Jahren.

So eine lange Schulgeschichte – für manche Schülerinnen und Schüler war die Schul­zeit wohl auch eine Leidens- eine Passionszeit. Ich muss zugeben, ich selbst bin nicht gern in die Schule gegangen. Auch wenn’s schon lange her ist, da sind Wunden ge­blieben. Lehrer, die ich ungerecht fand, Mitschüler, die mir das Leben schwer ge­macht haben.

Davon können meine eigenen Schüler heute auch berichten – sie erzählen vom Stress, den ihnen Lehrer und Schule machen, und dass ‚mobbing‘ von manchen Mitschülern als Spaß betrachtet wird.

Schulgeschichten können Passionsgeschichten sein, wenn genau das fehlt: Respekt, gegenseitige Achtung, ehrenvolles Verhalten – eben: Würde.

Für mich passt dazu eine Erzählung aus der Passionsgeschichte Jesu. Ich lese aus dem Markusevangelium den Abschnitt von Jesus in Gethsemane vor.

Jesus weiß, dass ihm großes Leid bevorsteht. Er will sich zurückziehen um sich da­rauf vorzubereiten. Dabei will er aber nicht allein sein. Er nimmt seine Freunde mit. Ob die überhaupt merken, was mit ihm los ist? Wohl eher nicht, denn es ist mitten in der Nacht, und seine Freunde schlafen, während er in großer Angst ist. Jesus weckt sie auf, sie könnten ihm doch zur Seite stehen. Aber sie schlafen wieder ein. So geht das drei Mal. Seine Freunde beachten Jesus nicht, sie kriegen erst gar nicht mit, wie es ihm geht. Nein, von Achtung und Respekt, von würdevollem Verhalten ist da nichts zu spüren. Was für eine Enttäuschung für Jesus. Am Ende aber rüttelt er seine Freunde richtig wach, und sie stehen auf. So muss Jesus seinen Weg zur Ver­haftung nicht allein gehen.

Wie oft fühlen sich wohl Schüler allein gelassen auf dem Weg durch das Schultor? Vor Prüfungen, Klausuren, bevor man wieder auf Menschen treffen muss, die einen mies behandeln? Und das geht nicht nur Schülern so – davon sind Lehrer nicht aus­genommen.

Wie oft fehlt das – nicht nur in der Schule: Achtung, Respekt, Fairness, eben: Würde. Das kann Schule schon zu einem wunden Punkt fürs ganze Leben machen.

Jesus belässt es nicht bei seiner Enttäuschung, das finde ich das Erstaunliche in der Gethsemanegeschichte. Wenn sie’s nicht kapieren, dann macht Jesus seiner Ent­täuschung Luft, und drängt sie dazu, ihn nicht weiter allein zu lassen. Und noch mehr: Die eigene Erfahrung von Leid lässt Jesus umso leidenschaftlicher für das Ende des Leides eintreten. Das hat er immer schon getan.

Er hat Menschen geholfen und mit Gott und untereinander versöhnt, leidenschaft­lich erzählt von einer Welt nach Gottes Willen erzählt. Einer Welt, in der Menschen füreinander da sind. Das finde ich auch einen Anstoß für das Schulleben. Aufeinan­der achten, achtsam miteinander umgehen. Sich nicht fertigmachen lassen und an­dere nicht fertigmachen, egal, auf welcher Seite des Lehrerpultes man sitzt.

Passionszeit erinnert an das Leid, Passion heißt aber auch Leidenschaft.

Ohne Leidenschaft hätte ich meine Schulzeit bestimmt nicht gut bestanden. Bei mir war es die Entdeckung der Musik, meine Zeit im Schulorchester. Das verdanke ich meinem Musiklehrer. Da entstanden Freundschaften. Da konnte ich meinem Ärger und meiner Angst Luft machen. Da war ich nicht allein auf dem Weg durch die Schule.

Lernen und Würde gehören zusammen – nicht nur durch glückliche Fügungen. Das ist die wichtigste Schul-Aufgabe!

Der Passionspunkt Schule muss kein wunder Punkt sein oder bleiben. Im Konzept unserer und vieler anderer Schulen wird eine ‚Kultur der Würdigung‘ angestrebt.

Das soll konkret werden. Würdevoll lernen, das heißt, dass ich die Schule als einen Ort erfahre, wo ich gefordert und gefördert werde. Talente entdecken und ent­wickeln gehört dazu, auch mit meinen Grenzen umgehen lernen und Enttäu­schungen überwinden, die nicht ausbleiben. Vor allem aber: Mich selbst und andere wahrnehmen als Menschen, denen Würde zu eigen ist. Jeder Mensch ist ein Eben­bild Gottes.

An der Hohen Landesschule gibt es das Programm ‚Hola tut Gutes‘ – Benefizaktio­nen zum Beispiel für Flüchtlinge sind eine Selbstverständlichkeit, viele Schüler und Lehrer beteiligen sich sehr engagiert. Theaterspielen an unserer Schule ist eine wunderbare Möglichkeit, Leidenschaft zu entdecken und Beziehungen zu ent­wickeln, es gibt Schüler-Sanitäter, Streitschlichter und natürlich Musik, da mische ich auch mit, und das macht viel Spaß. 

Schule kann ein guter Lebensort sein und ein Ort sich gut aufs Leben vorzubereiten. Wenn Achtsamkeit und Respekt Teil des Lehrplans sind, wenn Würde das Lernen begleitet.

Ob sich Tristans Wunsch nach Spaß dann schon vollumfänglich erfüllt, weiß ich nicht. Es bleiben noch Vokabeln, Formeln und Klausuren. Lernen bleibt auch Lernen – manchmal mühsam und mit einem gewissen Maß an Selbstüberwindung ver­bunden. Das bleibt nicht erspart. Das fällt aber leichter, wenn ich würdevoll be­handelt werde. Nicht weil ich’s mir verdienen müsste, sondern weil es mir von Gott zukommt und von Jesus vorgelebt wird. Und das gilt nicht nur für die Schule.

Es gibt viele Passionspunkte – im öffentlichen Raum, im eigenen Leben. Mir hilft es, diese wunden Punkte in Beziehung zu Jesu Leiden und seiner Leidenschaft fürs Leben zu stellen. Daraus erkenne ich: Ich bin nicht allein auf meinem Weg. Gott geht mit. In Jesus geht er durch das Leid ins Leben. Passionspunkte: Ein guter Weg auf Ostern hin.

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