Schönheit hilft
„Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du!“ (Hoheslied, 4,1) . So heißt es im Hohenlied der Liebe! Und jedes Mal, wenn ich daraus lese, berühren mich diese Worte neu. Ich empfinde sie wie ein Streicheln meiner Seele, obwohl ich gar nicht gemeint bin.
Es ist der Freund, in dessen Augen die Geliebte so schön ist! Er sieht sie so. Und vielleicht auch umgekehrt: Weil sie so geliebt wird, ist sie auch schön.
Es gibt aber auch Situationen, da sagt einem das keiner.
Es gibt Lebensphasen, da ist gar nichts schön. Bedrohung, Schmutz, Armut, Krieg.
Erstaunlicherweise kommt dann die Schönheit besonders in den Blick.
Eine Korrespondentin berichtet von Ukrainerinnen, denen sie nahe der Front in einem Nuklearbunker begegnet ist. Draußen hielt der Artilleriebeschuss an, drinnen, vier Meter unter der Erde, hausten seit Monaten 120 Menschen. Sie hatten alles verloren. Es stank nach Krankheit, aber das Haar der Frauen duftete frisch gewaschen. Sie wuschen es mit eisigem Wasser. Die Jüngeren von ihnen zogen ihre Lippen nach und tuschten sich die Wimpern. Offensichtlich konnten sie, solange sie das taten, die Erschütterungen ihres Lebens aushalten.
„Sorgen muss man sich um jene, die nichts mehr für sich tun. Die haben aufgegeben“, sagte die Reporterin.
Natürlich kann man von hier in Deutschland am häuslichen Frühstückstisch aus fragen: Warum braucht eine Frau, die nichts hat, ausgerechnet einen Kajalstift? Wieso trägt eine Frau auf der Flucht lackierte Nägel?
Eine Modefachfrau hat sich mit dieser Frage beschäftigt und meint, dass Menschen sich durch die Zuwendung zum Schönen Halt geben können. Die Kleidung hat etwas mit dem Intakt-sein-wollen der Menschen zu tun. Wenn das Chaos um einen herum schon groß ist, will ich wenigstens „aufgeräumt“ sein. Je stärker man bedroht wird, desto stärker wird deshalb der Wille zum Schönsein.
Ich habe von Modeschauen gelesen, die Frauen in belagerten Städten veranstaltet haben. Das klingt absurd. Aber die Frauen haben damit einen starken Akzent gegen ihre Angst gesetzt.
Ich denke, es geht gar nicht nur um die persönliche Schönheit, sondern darum, einen Blick für das Schöne und ein Ohr für wunderbaren Klang zu haben. Vielleicht bedeutet ja Schönheit, sich zu widersetzen und seinen Platz in der Welt zu erkämpfen mit Hilfe der Kunst, der Musik, der Literatur oder der Mode.
Jeder kann schön sein. Schönheit ist kein Zustand, Schönheit ist Aktivität, Widerstand. Mit ihr kann man etwas gegen die trostlose Realität setzen. Wenn es mir nicht besonders gut geht, habe ich auch manchmal Lust, ein Bad zu nehmen und schöne Musik zu hören. Das richtet mich auf.