Wie Hans Gott findet
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Wie Hans Gott findet

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Hans sitzt in der Sonne vor dem Bahnhof. Mit einem Döner in der Hand. Er setzt sich bewusst an diesen Platz, obwohl gegenüber eine Gruppe von Männern sitzt, die man normalerweise lieber auf Abstand hält. Obdachlose und Junkies vermutlich. Er betrachtet die Männer aufmerksam.

Plötzlich kommt einer von ihnen auf ihn zu und fragt: „ Darf ich mich dazusetzen?“ Hans nickt. Der Mann ist jung und sieht trotzdem total fertig aus. Er stellt sich als Dieter vor. Ohne Vorwarnung erzählt Dieter Hans sein ganzes Leben: Wie er ausgestiegen ist und die Welt bereist hat. Wie er drogenabhängig geworden ist. Und dass er höchstens noch 3 Monate leben wird. So sagen die Ärzte. Die Kumpels aus der Clique würden ihn bestimmt schon drei Tage nach seinem Tod vergessen, behauptet Dieter.

Hans hört einfach nur zu. Dann zeigt Dieter Hans seinen spindeldürren Arm mit vielen silbernen Armreifen. Und rückt mit einer merkwürdigen Bitte heraus: „Wenn ich dir einen dieser Armreifen gebe, versprichst du mir, ihn zu tragen, jeden Tag, in Erinnerung an mich?“ Hans überlegt. Immerhin ist er Pfarrer und denkt daran, wie seine Gemeinde wohl auf dieses Schmuckstück reagieren wird. Schließlich verspricht Hans, dass er den Armreif tragen wird. Dieter ist glücklich und nimmt Hans fest in die Arme. Hans fragt: „Warum hast du eigentlich von den vielen Menschen gerade mich angesprochen?“ Seine Antwort: „Du bist seit langem der Erste, der uns Penner mit guten Augen angeschaut hat.“ Hans erschrickt. Was wäre gewesen, wenn er „schlechte Augen“ gehabt hätte wie an vielen anderen Tagen?

Hans hat gerade „trainiert“, „gute Augen“ zu haben. Im Rahmen von Exerzitien auf der Straße. Exerzitien sind geistliche Übungen mit festen Gebetszeiten. Mit dem Ziel, Gott zu begegnen, offen für ihn zu sein. Normalerweise zieht man sich dafür einige Tage in die Stille eines Klosters zurück. Seit etwa 20 Jahren gibt es dieses geistliche Training aber auch auf der Straße an sozialen Brennpunkten.

Die Menschen, die mitmachen, nehmen sich Zeit und lassen sich treiben an Orte oder zu Menschen, die an den Rand gedrängt sind. Jeder geht an einen anderen Ort und bleibt, solange er will: zum Beispiel bei der Abschiebehaftanstalt, vor dem Gefängnis, bei den anonymen Gräbern auf dem Friedhof oder einfach so an öffentlichen Plätzen. Manche Teilnehmer setzen sich irgendwohin und betrachten aufmerksam die Umwelt. Andere kommen ins Gespräch mit Fremden, hören zu und beten für die, denen sie begegnen. Sie orientieren sich an den Worten von Jesus: „Was ihr einem von meinen geringsten Geschwistern getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25) Und sie begegnen Gott oft genau da, wo sie ihn am wenigsten erwartet haben.

Ich bin fasziniert von diesem geistlichen Training. Ich glaube, das ist genau das Richtige, um offen zu sein für Gott. Einfach aufmerksam hinschauen, sich Zeit nehmen, kein bestimmtes Ziel vor Augen haben, anderen Menschen Offenheit signalisieren. Warum nicht gleich heute anfangen, die „guten“ Augen zu trainieren? Ich habe zwar keine Zeit für eine ganze Woche. Aber es geht bestimmt auch so zwischendurch. Vielleicht bei der nächsten Fahrt mit der S-Bahn in die Frankfurter Innenstadt.

Buchtipp: Christian Herwartz (Hg.): Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen. Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien, Neukirchen Vluyn 2016
 

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