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Advent Warten, dass das Geheimnis gelüftet wird
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Advent Warten, dass das Geheimnis gelüftet wird

Anke Haendler-Kläsener
Ein Beitrag von Anke Haendler-Kläsener, Evangelische Krankenhauspfarrerin, Flieden
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Heute öffnen meine Kinder das erste Türchen an ihrem Adventskalender. Als sie noch klein waren, sind sie deshalb extra ganz früh aufgestanden. Sie sind die Treppe herunter geschlichen und haben neugierig geguckt, ob er wieder da hängt. 24 Päckchen, denen man nicht ansehen konnte, was drin ist. Kleine Überraschungen, gut verpackt. Ein Stück Marzipan. Ein kleines Bilderbuch. Ein Playmobil-Männchen zum Aufbauen. Ein Auto. Eine Rolle Pfefferminzbonbons. Ein Schokoladen-Nikolaus. Jeden Tag ein kleines Geheimnis.

Heute sind meine Kinder groß, aber dieser Brauch hat sich gehalten. Immer noch packe ich kleine Päckchen und schicke sie an ihren Studien- oder Wohnort, oder ich gebe sie ihnen vorher mit. Playmobilmännchen kann ich jetzt nicht mehr besorgen, aber stattdessen sind andere Dinge drin: Räucherkerzen. Teelichter aus Bienenhonig. Gesichtsmasken. Badezusatz. Gebrannte Mandeln. Proben vom Drogeriemarkt. Ein Gutschein für den Lieblingsdöner.

Vielleicht macht mir das Einpacken selbst sogar noch mehr Spaß als meinen Kindern das Auspacken. Es gehört nämlich seit fast dreißig Jahren zu meiner Weihnachtsvorbereitung dazu. Und ich bin dadurch innerlich nahe bei denen, die mir am Herzen liegen. Beim Einkaufen und beim Verpacken bin ich ihnen ganz verbunden. Ich sitze am Küchentisch, höre weihnachtliche Musik und lasse meine Gedanken schweifen, während ich zu Schere und Geschenkband greife. Und ich stelle mir vor, wie sie die kleinen Päckchen öffnen und damit dem Weihnachtsfest jeden Tag ein Stück näher kommen. Und ich wünsche, dass sie sich damit ein Stück Geheimnisvolles in ihrem neuen Leben bewahren können.

Seit vielen Jahren bekomme ich von einer Freundin einen Adventskalender geschenkt mit Texten, Bildern, Gedichten. Sie schickt ihn mit der Post, und in der Küche sind schon die passenden Nägel dafür und warten, dass er wieder dort hängt. „Der andere Advent“ heißt er passenderweise, denn er stellt einen Kontrapunkt dar. Er soll anders sein: zum Nachdenken verleiten, mich vorbereiten. Und jedes Jahr freue ich mich darauf, am Morgen die nächste Seite aufzuschlagen: Welches Gedicht wird mich heute überraschen? Welches schöne Foto? Welcher Bibelspruch? Zuerst Vorfreude und Spannung auf das, was noch verborgen ist. Und dann ein Augenblick zum Verweilen.

Musik: Camille Saint-Saens, Weihnachtsoratorium, „Prélude“

Die Adventszeit ist voller Geheimnisse. Wunschzettel werden geschrieben. Pakete werden gepackt und mit der Post verschickt. Zimmertüren werden abgeschlossen. Heimlich wird gemalt und gebastelt. Und ich habe den Eindruck, dass diese Geheimnistuerei die Erwartung auf das steigert, was dann zum Vorschein kommt. Spannung und Vorfreude entwickeln sich dadurch.

Ich bin mit dem Buch „Die Familie Pfäffling“ aufgewachsen, das heute wahrscheinlich nicht mehr viele kennen. Es spielt im 19. Jahrhundert und spiegelt eine Zeit wieder, in der ein ganz anderes Weltbild herrschte und eine völlig andere Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Und doch liebe ich die Geschichten wegen ihrer Herzenswärme. Darin gibt es eine wunderbare Szene, die genau davon erzählt: Nämlich wie wichtig die Geheimnisse in der Vorweihnachtszeit sind.

Familie Pfäffling hat sieben Kinder, die mit viel Klarheit und Strenge, aber gerade darin sehr liebevoll erzogen werden. Im Nachbarhaus lebt eine Arbeiterfamilie, deren Mutter Frau Pfäffling beim Putzen und Waschen manchmal zur Hand geht, und die wirklich arm ist. Für deren Kinder sammelt Frau Pfäffling in der Adventszeit gebrauchte Kleidung und Spielsachen, um sie zu unterstützen und um ihnen eine Weihnachtsfreude zu bereiten. Am Tag vor Weihnachten will die Frau nun diese Dinge abholen.

> Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber damit war Frau Pfäffling nicht einverstanden. „Mädchen“ sagte sie zu ihren Töchtern, „führt ihr die Kleinen in euer Stübchen und spielt ein wenig mit ihnen, bis ich sie wieder hole.“ Als die Kinder weg waren, sagte Frau Pfäffling: „Sie hätten die Kinder nicht bringen sollen, sonst sehen sie ja gleich, was sie bekommen. Ha(be ich) Ihnen nicht gesagt, dass wir einen Puppenwagen und allerlei Spielzeug für sie haben?“

„Ach“, entgegnete die Frau, „darauf kommt es bei uns nicht so an; die Kinder nehmen es, wie sie´s kriegen, und wenn man ihnen je etwas verstecken will, sie kommen doch dahinter, und dann betteln sie und lassen einem keine Ruhe, bis man ihnen den Willen tut. Bis Weihnachten kommt, ist auch meist schon alles aufgegessen, was man etwa Gutes für sie bekommen hat. Ich weiß wohl, dass es anders ist bei reichen Leuten, aber bei uns war´s noch kein Jahr schön am Heiligen Abend.“

„Wir sind auch keine reichen Leute, (…) aber wenn ich auch noch viel ärmer wäre, das weiß ich doch ganz gewiss, dass ich meinen Kindern einen schönen Heiligen Abend machen würde. Meine Kinder bekommen auch nicht viel – das können sie sich denken bei sieben – aber weil keines vorher ein Stückchen sieht, so ist dann die Überraschung doch groß. Glauben Sie, dass irgend eines von uns einen Lebkuchen oder sonst etwas von dem Weihnachtsgebäck versuchen würde vor dem eiligen Abend? Das käme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum geputzt wird, darf keines von den Kindern hereinschauen; erst wenn er angezündet ist und alles hergerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich, und dann sind sie so überrascht, dass sie strahlen und jubeln vor Freude, wenn auch gar keine großen Geschenke daliegen.“ <

Frau Pfäffling beratschlagt mit der Frau und gibt ihr Tipps, wie sie das Weihnachtsfest vorbereiten kann.  > „Ich mach´s, wie Sie sagen, Frau Pfäffling (…).“ „Das ist recht, (…) aber glauben Sie mir´s nur, die Sachen allein, und wenn es noch viel mehr wären, machen kein schönes Fest, das können nur Sie machen für Ihre Familie; fremde Leute können die Weihnachtsfreude nicht ins Haus bringen, das muss die Mutter tun (…).“

Frau Pfäffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurück; als diese endlich heimkamen, waren alle Schätze im Schrank verborgen und der Schlüssel abgezogen. Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an, darum zu betteln und schließlich laut zu heulen. Damit setzten sie gewöhnlich bei der Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht. „Brüllt nur recht laut!“ sagte sie, „damit man es im Nebenhaus hört. Nichts Gutes gibt´s heute, nichts Schönes, erst am Abend, wenn ihr dem Vater eure (Weihnachts-)Lieder aufsagt. Bei Pfäfflings ist´s auch so.“ Da ergaben sich die Kinder. < (aus: Agnes Sapper, Die Familie Pfäffling. Ein deutsches Wintermärchen, 1906, S.129-131 in Auszügen)

Musik: C. Saint-Saens, Weihnachtsoratorium, „Expectans“

Jeden Tag nur ein Türchen am Adventskalender öffnen - Päckchen verschlossen lassen bis zum großen Tag – das fällt manchem schwer. Geheimnisse zu wahren ist nicht leicht. Und doch macht gerade das einen Zauber aus im Leben. Nicht alles sofort haben oder tun. Dinge aufschieben. Ungeduldig und zappelig werden. Warten.

Der Mensch kann warten. Das ist ein wichtiges Wesensmerkmal und unterscheidet ihn von anderen Lebewesen. Und genau das können wir üben in der Advents- in der Vorweihnachtszeit. Warten auf die Überraschung. Auf das, was noch nicht ist. Warten aufs Geheimnis.

Ein Geheimnis hat einen Wert in sich, ja es hat sogar einen Mehrwert. Es verweist auf etwas, das größer ist als es selbst, auf eine Wirklichkeit jenseits seiner selbst. Als ich eine Zeitlang in den USA lebte, hatte meine Gastfamilie dort einen schönen Weihnachtsbrauch. Sie stellten ihren Baum schon etwas früher auf und legten dann jedes Geschenk, das fertig gebastelt oder gekauft war, schön festlich verpackt darunter. So wuchs der Berg von Tag zu Tag, und wir schauten ihn voller Neugier an. Unzählige kleine Päckchen, unzählige Möglichkeiten. Ich stellte mir vor, was sich darin alles verbergen könnte. Meine Phantasie ging los, es gab kein Halten. Dieses adventliche Träumen fand ich wunderschön.

Musik: C. Saint-Saens, Weihnachtsoratorium, „Expectans“

Geheimnisse sind von einem Zauber umgeben. Da ist mehr, als wir unmittelbar wahrnehmen oder anfassen können. Später habe ich dann im Gottesdienst die Worte gehört: „Geheimnis des Glaubens“. Wunderschöne Worte. Sie werden in der katholischen Kirche als Wechselgruß während der Abendmahlsfeier gesprochen, und auch in lutherischen Gottesdiensten werden sie benutzt. „Geheimnis des Glaubens“ sagte der Pfarrer oder die Pfarrerin in der Abendmahlsfeier, und die Menschen antworten „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Geheimnis des Glaubens. Mein Glaube ist mehr: mehr als das, was ich in dürren Worten ausdrücken kann. Mehr als jedes Glaubensbekenntnis. Da gibt es einen Überschuss. Etwas, was über die gesprochenen Worte hinausgeht. Ein Geheimnis.

Wenn ich einen Spaziergang mache durch eine frisch verschneite Landschaft und atme die klirrend kalte Luft ein, dann kommt mir in den Sinn: Wie wunderschön hat Gott, unser Schöpfer das gemacht! Als ich meinen kleinen Enkel zum ersten Mal im Arm halten durfte, da war auch so ein Gefühl in mir: Ich staune über ein solches Geheimnis - so ein kleiner Mensch und doch vollkommen - ein Geschenk Gottes.

Im Gottesdienst feiern wir mehr als das, was vor Augen liegt. Da kommt eine Dimension zum Tragen, die sich nicht einfangen lässt. Das Geheimnis des Glaubens lässt sich nicht auf einen knappen Nenner bringen. Deshalb werden Kirchen oft innen mit Goldfarbe ausgemalt oder haben goldene Kuppeln: um über sich selbst hinauszuweisen. Im Gottesdienst feiern wir den, der sich nicht in Gebäude einsperren lässt. Wir feiern Gott, in dem sich Himmel und Erde berühren. Das Geheimnis wird gelüftet.

Denn so schön das Warten in der Adventszeit auch ist: Dann kommt der Heilige Abend. Das letzte Türchen im Adventskalender ist geöffnet, das letzte der 24 Säckchen geöffnet. Das Warten hat ein Ende. Endlich. Unterm Weihnachtsbaum ist jetzt die Zeit, die festlichen bunten Bänder zu lösen, das goldene Weihnachtspapier zu öffnen und hineinzuschauen. Das Geheimnis wird gelüftet.

Ganz ähnlich erlebe ich es mit dem Geheimnis des Glaubens. Zu Weihnachten wird es gelüftet. Es bekommt im wahrsten Sinne des Wortes Hand und Fuß. Wenn am Heiligen Abend in den Gottesdiensten das Krippenspiel gespielt wird, dann feiern wir, dass Gott Mensch geworden ist. Dass er im Kind in der Krippe zur Welt kommt. Dann feiern wir Jesus Christus und seine Geburt. Was wir jetzt noch erhoffen, erträumen, sehnsuchtsvoll erwarten, das wird dann ganz handfest: Jesus ist der Inhalt unseres Glaubens.

Musik:  C. Saint-Saens, Weihnachtsoratorium, „Domine, ego credidi“

In der Offenbarung des Johannes erzählt er von einem Buch mit sieben Siegeln. In diesem Buch ist etwas aufgeschrieben, zu dem wir keinen natürlichen Zugang haben. Durch seine sieben Siegel ist es bestens geschützt. Und doch gibt es jemanden, der die Siegel brechen und das Buch öffnen kann. Er kann das Geheimnis des Glaubens lüften.

Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.(Offenbarung des Johannes 5,1-5)

Mir kommt es so vor, als ziehe Johannes einen Schleier zur Seite, damit wir einen Blick dahinter werfen können. Damit wir etwas davon sehen, was sich hinter dem Geheimnis des Glaubens verbirgt. Und was wir dort sehen, das ist der Löwe aus dem Stamm Juda. Die Wurzel Davids. Das ist Jesus Christus, der uns mit Liebe und Zuwendung entgegen kommt. Ich freue mich darauf, mich in den nächsten Wochen auf seine Geburt vorzubereiten, vielleicht indem ich meinen Adventskalender lese, indem ich Päckchen packe und sie unter den Weihnachtsbaum lege.

Musik:  C. Saint-Saens, Weihnachtsoratorium, „Tollite hostias“

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