Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun
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Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun

Dr. Dr. h.c. Volker Jung
Ein Beitrag von Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt

Heute, am Karfreitag, wandern unsere Gedanken auf den Berg Golgatha. Dort starb Jesus am Kreuz. Ein qualvoller Tod. Er erinnert uns an das Elend in der Welt, das es bis heute gibt. Zugleich öffnet uns Jesus am Kreuz einen anderen Blick auf die Welt: Den Blick Gottes, der liebt – auch diejenigen, die das nicht für möglich halten, weil sie sich zu sehr für etwas schämen. Weil sie ihre Schuld so ansehen, als könnte sich nicht vergeben werden. Oder weil sie sich selbst nicht für liebenswert halten.

Was geschah auf Golgatha? Warum geschah es? Und wie berührt uns das heute? Der Evangelist Lukas erzählt es und lässt dabei mitfühlen, was in den Beteiligten vorging.

Jesus wird aus dem Folterkeller des römischen Statthalters geholt und zur Hinrichtungsstätte geführt. Viele Menschen folgen. Sie alle wissen, was kommen wird und sie tun, was sie meinen, tun zu müssen. Das ist das Furchtbare an dieser Situation: Jeder tut, was er im Rahmen seiner Möglichkeiten für richtig hält. Aber dabei kommt heraus, dass ein Mensch sterben muss, der eigentlich nur die Botschaft von der Liebe Gottes überbringen und leben will. Wissen alle Beteiligten wirklich, was sie da tun? Wir werden sehen. Gehen wir in Gedanken mit ihnen und fragen uns dabei auch: Wo wäre unser Platz?

Die ersten, die Lukas nennt, sind Frauen. Sie weinen. Offenbar fühlen sie mit dem Opfer. Sie wissen um den Wert menschlichen Lebens, tragen sie es doch unter Mühen und Gefahren in ihrem eigenen Leib aus. Doch für den sterbenden Jesus können sie nichts tun außer weinen. Immerhin: In ihrer Ohnmacht sind die Frauen trotzdem bereit, sich von seinem Elend anrühren zu lassen. Zu ihnen können sich heute viele stellen, die nicht ganz in ihren eigenen Sorgen versinken. Sie bewahren sich ihren offenen Blick und ihr gutes Herz für andere. Sie sehen, wo Menschen in Not sind und helfen. Seien es Nachbarn oder Flüchtlinge, Senioren oder überlastete Mütter, Obdachlose oder Erdbebenopfer.

Auf Golgatha stehen viele andere. Sie verfolgen die Ereignisse, ohne eine Miene zu verziehen. Schauen nur zu. Man darf spekulieren, was sie dabei empfinden: Neugier, Mitleid, Genugtuung, Freude, dass es nicht sie trifft, sondern einen anderen? Vielleicht von allem etwas. Sie sind damit beschäftigt, einen guten Platz zu finden, von dem aus sie gut sehen können. Dabei wollen sie keineswegs der Obrigkeit unangenehm auffallen und womöglich in die Sache noch mit hineingezogen werden. Fragen sie sich, ob sie sich mitschuldig machen, wenn sie nichts-tuend dabei stehen? Vermutlich nicht viele, denn in der Schule des Lebens haben sie gelernt: Sie, die kleinen Leute, können das Rad der Geschichte nicht stoppen. Im Gegenteil, es ist gefährlich, sich einzumischen.

Nicht nur Schaulustige und traurige Frauen sind dabei, als Jesus zur Hinrichtung geführt wird. Auch die Hüter der Religion sind dabei, die Schriftgelehrten und Priester. Sie sehen ihre Aufgabe darin, den Glauben zu schützen und damit auch das Volk Israel zusammenzuhalten. Diesen Glauben hat Jesus in ihren Augen geschmäht. Sie warfen ihm vor, dass er die heilige Ruhe am Sabbat in Frage stellt und dass er den Kult im Tempel kritisiert. Darin sahen sie eine empfindliche Störung der gesellschaftlichen Ordnung, auf die sie als Hüter des Glaubens natürlich reagieren müssen. Sie sorgen dafür, dass an Jesus ein Exempel statuiert wird. Alle sollen sehen, was mit denen passiert, die gegen die allgemeinen Werte verstoßen. Wer die herrschende Ordnung in Frage stellt, eckt an und erntet Widerspruch. Oft sogar Hass, denn wer gegen die herrschende Ordnung verstößt, beschämt all jene, die ihr Leben in diesen Ordnungen eingerichtet haben. Das kann man auch heute sehen, wenn es etwa um die traditionelle Familie geht, oder um das Verhältnis von Mann und Frau oder manch anderes. Immer pochen Menschen darauf, dass gelten soll, was immer galt. Ihr Schmerz ist echt.

Auf Golgatha ist natürlich auch die römische Staatsmacht anwesend. Sie horchte auf, als von Jesus gesagt wurde, er sei der neue „König der Juden“. Machthaber mögen keine Konkurrenz. Das ist in vielen Ländern bis heute so. Dort wird politische Konkurrenz nicht als legitime Opposition gesehen, sondern als gefährlicher Terrorismus. So sehen die Römer auch Jesus: als Aufrührer. Gegen den sie vorgehen. Sie sind schließlich für die staatliche Ordnung zuständig – eine Frage der inneren Sicherheit. Die ist so wichtig, dass man sich dabei von Einzelschicksalen nicht anrühren lassen darf.

Soldaten kommen zum Einsatz. Sie tun dabei nur, was ihnen befohlen wird. Dienst nach Vorschrift. Sie werden nicht fürs Mitdenken bezahlt und schon gar nicht für Mitleid. Ihr Job lautet: festnehmen, foltern, hinrichten.

Jesus stirbt nicht allein. Links und rechts von ihm werden zwei weitere gekreuzigt, offenbar Kriminelle, die nun die Todesstrafe erfahren. Einer schlägt sich noch im Sterben auf die Seite der Spötter und herrscht Jesus an: „Bis du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!“ Der andere geht dazwischen. Er schlägt sich auf die Seite Jesu. Er sagt zum Spötter, dass sie zu Recht sterben als verurteilte Verbrecher, Jesus jedoch nicht. Dann wendet er sich an Jesus direkt und bittet ihn: „Denke an mich, wenn du in dein Reich kommst.“

Jesus auf dem Weg zum Kreuz. Umringt von Frauen, die mitfühlen, Schaulustigen, die nur zuschauen, Priestern, die nur ihren Glauben verteidigen, Soldaten, die nur für Ordnung und Sicherheit sorgen und zwei Kriminellen, die die in ihren letzten Minuten zwischen Hohn und Hoffnung schwanken. Was tut Jesus?

Jesus ist zutiefst erniedrigt, blutig geschlagen, verhört, unschuldig verurteilt, zur Schau gestellt auf offener Straße, einen furchtbaren Tod vor Augen. Hilflos, gedemütigt und beschämt.

Eine Extremsituation! Was würden wir darin tun? Im Erdboden versinken? Oder allen Umstehenden die eigene Angst und die Wut entgegenschreien? Oder sich ausmalen, man könne sie alle selber packen und ihnen zeigen, wie das ist, gequält zu werden? Oder sich wünschen, man könne alle anderen mit in den Tod reißen? Warum soll nur ich leiden und sterben? Es ist ein uralter Reflex, Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten. Nach Genugtuung zu suchen, indem man Schuldige bestraft und für Böses auf Rache sinnt.

Schauen wir, was Jesus tut. Er sagt einen Satz von großer Tiefe. Er ist zu einem geflügelten Wort in der Alltagssprache geworden: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Mit diesem Satz wendet sich Jesus an Gott. Er betet. Er betet für die anderen. Für wen genau? Das bleibt offen. Sollte Jesus wirklich für alle um Vergebung bitten? Sogar für seine Peiniger? Und die Schwerverbrecher? Dieser Gedanke hat schon immer provoziert. Auch diejenigen, die früher, in den Jahrhunderten vor dem Buchdruck, die Bibel abgeschrieben haben. Manche Schreiber haben diesen Satz Jesu weggelassen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ Das erschien ihnen zu abwegig. Der Gedanke ist ja auch nur schwer zu ertragen. Insbesondere, wenn man sich heute fragt: Darf Gott auch bei jemandem sein, der einen Menschen ermordet hat? Womöglich Kindern das Leben genommen hat? Kann Gott kaltblütigen Attentätern vergeben? Je persönlicher man von Verbrechen betroffen ist, desto schwerer ist dieser Gedanke zu ertragen. Aber dann man muss ihn auch gar nicht gut finden. Man muss nicht selbst vergeben. Man muss nur wissen, dass Gott es tun kann. Und dass Jesus ihn darum bittet. Für Vergebung gibt es keine Obergrenze.

„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ Vergebung – das ist ein großes Wort, ein schönes Wort. Aber auch ein gefährliches Wort. Gerade für Christen. Denn es gibt auch falsche Vergebung.

Falsch ist sie, wenn sie zu schnell daherkommt. Manche Christen meinen ja, sie müssten alles sofort vergeben, weil Jesus das so gewollt hat. Dann wird die Vergebung zur frommen Fassade, hinter der der eigene Groll versteckt wird.

Ist Jesus am Kreuz ein Vorbild für Christen? Zeigt er den Frommen, wie sie selber sterben sollen, nämlich mit einer Fürbitte für ihre Peiniger auf den Lippen? Das haben sich schon viele gefragt, besonders, wenn sie wegen ihres Glaubens verfolgt wurden. Zu ihnen gehörte auch Martin Niemöller. Als Pfarrer und Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem berühmten Friedenskämpfer und Pazifisten.

Zuvor in der NS-Zeit war er allerdings viele Jahre lang im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Dort konnte er täglich durch das Fenster seiner Zelle den Galgen sehen. Und er hatte viel Zeit, sich dort sein eigenes Ende auszumalen. Seine große Sorge war, dort zu enden und dabei Hass für seine Mörder zu empfinden. Doch dann hat er verstanden: Vergebung ist keine Meisterleistung für Musterchristen. Vergebung ist Gottes Werk. Und manchmal auch nur ihm vorbehalten, weil sie Menschenkraft übersteigt.

Falsch ist die Vergebung auch, wenn sie verlangt wird. Das passiert insbesondere, wenn sich Täter und Opfer immer wieder begegnen. Etwa in der Familie. Zum Beispiel wenn es zu Gewalt gekommen ist. Manchmal meinen Täter dann, irgendwann genug gebüßt zu haben. Dann verlangen sie vom Opfer, das es endlich vergeben soll. Dabei fällt oft ein Satz wie: „Irgendwann muss auch mal wieder gut sein!“ Das finden manchmal auch Umstehende aus dem Familien- oder Freundeskreis. Dann sagen sie: „Jetzt muss aber mal Schluss sein. Du musst das einfach mal vergeben!“ Aber so einfach geht das nicht. Schon gar nicht auf Befehl.

Vergebung ist nur echt, wenn sie in der Tiefe gegründet ist. Dazu muss man den Schmerz und die Wut gespürt haben. Man muss Kränkung und Beschämung durchlitten haben. Religiöse Menschen sagen darüber hinaus: Man muss auch Gottes Liebe erfahren. Dann kann man vielleicht vergeben. Vielleicht auch nur in Momenten.

Vergebung ist schwer, das erfährt auch Jesus selbst. Er sagt: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ Statt seine Peiniger zu hassen, sorgt er sich um sie. Doch er selbst kann ihnen offenbar nicht vergeben. Er bittet Gott darum.

Jesus spürt als Mensch diese Grenze – aber er verliert nicht seinen Glauben und seine Überzeugung. Die lautet: Ich will nicht die hassen, die mir wehtun. Ihre Gewalt will ich nicht mit Gewalt vergelten. Denn wer das tut, entfesselt eine Spirale der Gewalt. Hass und Rache binden Opfer und Täter aneinander, sie kommen nicht voneinander los. Ihre Wunden können nicht heilen, sie bleiben offen und tun immer weiter weh. Das kennt man von Scheidungsfällen. Wenn ihre Liebesbeziehungen zerbrechen, finden manche Beteiligte aus ihrem Schmerz einfach nicht heraus. Sie bleiben darin gefangen, jahrelang und manche sogar für den Rest ihres Lebens. Ständig schauen sie, was der Ex-Partner macht, und ereifern sich darüber. Je besser es ihm geht, desto schlechter geht es ihnen. Ohne Vergebung bleiben alle im Gefängnis ihres Schmerzes sitzen. So besteht die zerbrochene Beziehung immer weiter, im Schmerz.

Anders ging Antoine vor, nachdem er im November 2015 bei den Terroranschlägen in Paris seine Frau verloren hatte. An die Attentäter, die Mörder seiner Frau und Mutter ihres nicht einmal zwei Jahre alten Sohnes, wendete er sich mit einem offenen Brief. Darin schrieb er: „Meinen Hass bekommt ihr nicht!“ Antoine hat durchschaut, dass die Täter genau nach diesem Hass verlangten. Das ist das Besondere an solchen ideologischen Morden. Die Täter wollen Hass säen, um Hass zu ernten. Diese Ernte hat ihnen Antoine entzogen. Ich bewundere seine innere Stärke und seinen Kampfgeist für das Leben. Aber ich weiß nicht: Hat er damit nur einen psychologisch besonders gut durchdachten Gegenschlag ausgeführt? Oder konnte er die unsichtbare Verbindung des Hasses tatsächlich schon kappen? Das wäre ja schon viel.

„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ Es ist kein Wunder, dass dieser Satz so berühmt ist. Er rührt viele im Innersten an. Sie entdecken in dieser Fürbitte Jesu ihre eigene Sehnsucht nach Vergebung. Es gehört wohl zum tiefsten Verlangen des Menschen, ausräumen zu können, was sich zwischen sie und andere geschoben hat. Auch das, was sich zwischen Gott und ihnen aufgebaut hat. Das Leben soll wieder heil werden. Dieses tiefe Verlangen schwingt mit, wenn Jesus um Vergebung bittet. Aber nicht nur das. Auch die Antwort: Auch Gottes Zusage der Vergebung steckt in Jesu Worten. Mit ihnen legt er eine Spur zu Gott. Drei Tage später wird sich zeigen, wohin sie führt: Da siegt die Liebe über den Hass, das Leben über den Tod.

Doch heute, am Karfreitag, bleiben wir auf Golgatha, und hören Jesus beten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ Dieses Gebet ist irritierend: Wieso sollen die Beteiligten nicht wissen, was sie tun? Wir haben doch festgestellt, dass sie alle sehr genau wissen, was sie tun, im Rahmen ihrer Rolle und im Rahmen ihrer Lebenshorizonte. Doch etwas Entscheidendes wissen sie nicht: Sie wissen nicht, wen sie da kreuzigen. Und was Gott daraus machen wird. So kann man wissen, was man tut, und doch nicht wissen, was man tut – vor allem nicht: was es bedeutet und was daraus wird.

Jesus hat offenbar eine andere Perspektive. Ihn trägt die Hoffnung auf Gottes Liebe. Von ihr weiß er sich im Sterben und im Leben getragen. So erinnert uns Jesus nicht nur an die Elenden in der Welt, die es bis heute gibt, sondern er eröffnet uns auch einen anderen Blick auf die Welt: Den Blick Gottes, der liebt – auch diejenigen, die das nicht für möglich halten, weil sie sich zu sehr für etwas schämen. Weil sie meinen, ihre Schuld könne nicht vergeben werden. Oder weil sie sich selbst nicht für liebenswert halten. Für sie, für alle besteht Grund zur Hoffnung, denn Jesus spricht für sie: „Vater, vergib ihnen.“

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