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Es ist noch nicht vorbei
Bildquelle Pixabay

Es ist noch nicht vorbei

Hermann Trusheim
Ein Beitrag von Hermann Trusheim, Evangelischer Schulpfarrer, Hanau
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Ecclesia semper reformanda

Einer kommt immer zu spät. Das ist ein Gesetz bei Gruppenreisen. Muss es ausgerechnet der Reiseleiter sein? Das ist mir jetzt schon ein bisschen peinlich.
Dass die Schüler auf den Lehrer warten müssen finden sie sonst nicht so schlimm. Aber hier schon. Wir sind nicht in der Hohen Landesschule in Hanau. Wir haben einen Ortstermin mit der Reformation – wir sind in Wittenberg.

Im September 2017 sind wir unterwegs auf den Spuren von Luther & Co. – in Wittenberg, wo sonst.
Ich entschuldige mich erstmal für meine Verspätung und überhöre ein „… wer zu spät kommt, muss einen ausgeben“. Dann geht’s los. In die Stadt, die sich seit meinem letzten Besuch vor über 25 Jahren sehr verändert hat. Damals war vieles baufällig, die Sorge um den Erhalt war berechtigt. Hinter bröckelnden Fassaden standen blanke Balken, wie in der Wirkungsstätte des Malers Lucas Cranach. Das hat mich damals erschreckt – wie soll aus diesen Ruinen noch was werden?

Inzwischen ist sehr viel geschehen. Zum Reformationsjubiläum ist alles wunderbar restauriert worden.
Die Schüler staunen, was sich sogar original erhalten hat – die Lutherstube zum Beispiel. Die Stadtführerin nennt es ein Wunder nach all‘ den Wirren der Geschichte. Ich zeige meinen Schülern den Fußboden: Eichendielen, abgelaufen, gedunkelt, manchmal ausgebessert. Wer alles in dieser Stube war? Natürlich Luther, Melanchthon, Cranach, aber auch Napoleon und Goethe. Hier wurde Reformation gemacht, irgendwie weht hier der Atem der Geschichte und hat vielleicht dazu beigetragen, dass dieser Ort erhalten blieb.

Ehrwürdige Gemäuer erzählen die Geschichte der Reformation. Von der Kirche, die sich verändert, weil Fragen gestellt wurden. Nach dem Sinn und dem Auftrag der Kirche. Da haben welche den Aufbruch gewagt. Da haben sich Menschen zusammengefunden und gemeinsam etwas aufgebaut - inspiriert von Gottes Wort.

Als wir uns nach der Besichtigungstour zusammensetzen interessiert mich: Was macht das, die Begegnung mit den Stätten der  Reformation, mit meinen Schülern? Bleibt’s beim Betrachten und Staunen, oder ist da mehr? Was löst die Begegnung mit Luther & Co. aus?
Wir sitzen im Seminarraum des Glöckner-Stiftes zusammen. Das ist unsere Herberge in Wittenberg. Das Gebäude war sehr heruntergekommen, aber Menschen haben sich zusammengefunden, um eine günstiges kirchliches Hotel mitten in Wittenberg anbieten zu können. Sie haben Zeit, Arbeitskraft und Geld für dieses Ziel investiert.

Meine Schüler müssen zwar auf manche Standards verzichten, die sie zu Hause haben, aber sie fühlen sich trotzdem wohl. Das liegt sicher vor allem daran, dass wir gemeinsam etwas erleben, uns Zeit nehmen für Fragen und Gespräche, über Gott und die Welt, genau dafür ist hier Raum.
Ich frage die Abiturienten: ‚Wie halten Sie es mit der Kirche?‘ - ‚Was haben Sie für Erfahrungen, was für Ideen?‘ – ‚Auf welchen Weg bringen Sie die Spuren der Reformation?‘
Klar sind da erst mal die frischen Eindrücke, dass der Reformator Luther im Doppelpack gesehen werden muss. Nein, nicht nur mit Melanchthon, sondern vor allem mit seiner Frau Katharina von Bora. Ohne die wäre wohl wenig gegangen. Beeindruckt hat auch der ‚schnellste Maler‘, so steht es sogar auf Cranachs Grabstein in Weimar, – 5.000 Werke, das findet auch die Generation YouTube ganz schön viel.

Dass die Reformatoren keine Helden waren, wurde beim Stadtrundgang deutlich. Luthers Rolle im Bauernkrieg, seine Schriften gegen die Juden, nein, Heldenverehrung ist da nicht angesagt.

Eines heben die jungen Leute hervor: Die Reformatoren hatten eine Vision. Eine Idee von Kirche, die begeistert hat. Sie selbst und dann andere. Eine Vision, die in Bewegung setzt.
Das persönliche Verhältnis zu Gott, die Entdeckung des Individuums, das ist den 18jährigen sehr wichtig. Luther hat betont: Jeder Mensch hat ein eigenes Verhältnis zu Gott. Das finden meine Schüler gut. ‚Da fühle ich mich gesehen‘, sagt eine. ‚ Gott ist für mich da. Er ist nicht immer nur hinter mir her, um mich zu bestrafen, wenn ich Mist baue.‘ So drückt einer die Revolution des Gottesbildes aus, das die Reformation bewirkte.
Eigentlich kann Kirche ganz toll sein – eine Schülerin berichtet vom Besuch des Kirchentages mit vielen Begegnungen und Veranstaltungen. Manche sind in der eigenen Kirchengemeinde engagiert, und mit viel Spaß dabei. Das haben wir der Reformation zu verdanken: Für Luther sind alle Getauften Priester. Die jungen Leute sehen aber auch, dass Kirche ein Imageproblem in der Öffentlichkeit hat. Kritisch wird gefragt: ‚Wer soll denn die Predigten und die alten Lieder verstehen?‘ Es fällt das Wort vom ‚Traditionsverein‘.
Ich höre da heraus: Das suchen Menschen in und bei der Kirche – Verstehen und Verstanden werden.
Das könnte eine Vision von Kirche sein – die Kirche, in der ich vorkomme. Mit einer Sprache, die nach Luther ‚dem Volk auf’s Maul schaut‘ und verstanden wird.
Da sehe ich die große Herausforderung: Kirche sein in einer komplexen Welt, die unübersichtlich geworden ist, in der Kirche nur eine Stimme unter vielen ist.
Einfache Antworten gibt’s da wohl nicht. Aber ein paar Impulse erhoffe ich mir von der letzten Station auf unserer Reformationstour.

Das Predigerseminar in Wittenberg ist ein moderner Bau neben der alten Residenz der Kurfürsten. Neue Architektur verbunden mit altem Gemäuer. Hier bereiten sich junge Menschen auf den Pfarrdienst vor.
Ob die Verbindung von Altem und Neuem gerade in Wittenberg Programm ist, fragen wir die Leiterin des Predigerseminars.
‚Das ist durchaus so gedacht‘, antwortet sie. ‚Reformation hört nicht auf. Sie geht weiter, wie Luther sagt ‚ecclesia semper reformanda‘ – das heißt: Die Kirche muss immer reformiert werden.‘
‚Und wie soll das heute gehen?‘ - wollen wir wissen. Die Leiterin des Predigerseminars verweist auf die jüngste Geschichte der Kirche in beiden Teilen Deutschlands. Austrittswellen wegen politischer Umstände, wegen der Kirchensteuer, weil die Menschen Gott in ihrem Alltag nicht mehr zu brauchen scheinen. ‚Die Menschen sind in Scharen ausgetreten, aber sie kommen nur als Einzelne zurück.‘
Sie erzählt von Erfahrungen in Sachsen. Kirche verändert sich, richtet sich neu aus.

Obwohl sie eigentlich keine Beziehung mehr zur Kirche haben, kümmern sich Menschen um das Gebäude mitten im Ort. Weil sie nicht zulassen wollen, dass die Ortskirche verfällt. Und dann geschieht mehr. Kirchen werden neu- und wiederentdeckt als Orte der Begegnung. Als Ort der Stille und Besinnung in lauter und hektischer Zeit. Als Orte zum Versammeln und Verweilen. Als Orte für Musik, für Gespräche und zum Hören auf Gottes Wort.
Was Rettungsaktionen vor dem endgültigen Verfall beginnt, führt weit darüber hinaus. Da wächst viel mehr, manchmal wie ein Wunder. Das gibt sie uns mit auf den Weg. Reformation geschieht – Menschen entdecken Kirche neu. Und das macht was aus den Menschen und der Kirche.

Ich finde, so werden aus Ruinen Räume zum Verstehen und Verstanden werden. Das ist bestimmt noch keine Lösung für alle Probleme, nicht überall hin übertragbar. Wir müssen ja auch nicht abwarten, bis überall die Kirchen zu verfallen drohen.
Aber das Beispiel aus Sachsen verhilft zu einer anderen Perspektive. Kirche öffnet sich. Reformation geht weiter. Sie bietet Menschen einen Raum zum Verstehen und Verstanden werden, sich über Gott und die Welt auszutauschen. So, wie es sich Luther wünschte. Manchmal geben sogar die alten Gemäuer selbst den Anstoß dafür, dass Kirche bleibt. Nicht so, wie sie ist - sie verändert sich. Indem Raum dafür gegeben wird, Gott neu zu entdecken, mit langem Atem und der Hoffnung auf den Geist, der inspiriert.
Es kommt darauf an, nach der eigenen Vision zu fragen und zu suchen. Und dann zu reformieren. Dem kann Kirche Raum geben.
Davon inspiriert, haben wir Pläne geschmiedet, für einen Raum der Stille an unserer Schule. Das wäre ein Segen im lauten und hektischen Schulalltag. So ein Raum wird gebraucht und bestimmt gern aufgesucht. Und wer weiß, vielleicht finden dann auch welche den Weg in Kirchenräume, zum Verstehen und Verstanden werden.

Eine Woche nach dem großen Jubiläum ist die Reformation nicht zu Ende – mit uns geht sie weiter: ecclesia semper reformanda - die Kirche muss immer reformiert werden. Und darauf gebe ich meinen Schülern einen aus.

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