Die Kostbarkeit eines Frosches
Mein fünfjähriger Enkel hat seine beiden Hände zu einem Hohlraum geformt. Er hält etwas behutsam in seiner Hand. Wir sind in der Nähe eines Bachs. Für einen Augenblick bleibt er vor mir stehen. Kurz schiebt er seine Daumen etwas auseinander und lässt mich hineinschauen. Ein kleiner, grüner Frosch liegt in den Kinderhänden. Vorsichtig geht er nun weiter bis zum Bach. Kniet sich am Ufer hin und setzt langsam den Frosch ins Wasser. Er rennt schnell zurück zu der Stelle, wo er den Frosch gefunden hat.
„Was tust du?“, frage ich ihn. „Ich trage den Frosch zum Wasser, damit er nicht umkommt!“, gibt er mir zur Antwort. „Hier ist es zu trocken!“ Mein Blick fällt auf die neunhundertneunundneunzig anderen Frosche, die hier zu sehen sind. Ich weiß nicht, ob es ihnen wirklich zu trocken ist. Ich frage ihn: „Willst du die auch alle retten?“ Mein Enkel meint: „Ich probiere es.“ Ich entgegne: „Das schaffst du nie! Das sind viel zu viele.“ Aber er meint: „Opa, vielleicht schaff ich nicht alle. Aber einige rette ich. Und die sind dann ganz bestimmt so glücklich wie ich!“
Jesus erzählt, wie kostbar ein Einzelner ist. Ein Mensch, so sagt er, vermisst ein Schaf. Es ist verloren gegangen. Der Hirte lässt neunundneunzig Schafe alleine zurück, um eine Rettungsaktion zu starten. Er sucht dieses eine Schaf. So lange, bis er es endlich gefunden hat. Und wenn er es gefunden hat, feiert er ein großes Fest. Ist es der Mühe wert, das eine Schaf zu suchen, wo doch die anderen neunundneunzig noch zusammen sind? (Lukas 15)
Warum einen einzelnen Frosch retten, wenn die allermeisten der neunhundertneunundneunzig anderen doch eh umkommen werden? Wen kümmert es, ob Frösche glücklich sind? Manchmal denke ich so und spüre, dass ich den Einzelnen in der Masse nicht mehr sehe. Statt den konkreten Mann, die konkrete Frau zu sehen, bin ich mit den Gedanken schon woanders. Ich verliere den Blick für die Kostbarkeit des Einzelnen. Wie anders ist die Sichtweise Gottes. Das Gleichnis Jesu vom verlorenen Schaf und mein kleiner Enkel und seine Rettungsaktion für Frösche malt mir vor Augen, wie es anders geht: nämlich den Einzelnen sehen und sein Glück. Die Geschichte, die Jesus erzählt, fordert mich heraus. Ich möchte genauer hinschauen. Ich möchte die Kostbarkeit des Einzelnen bewusster wahrnehmen. Ich möchte mich herausfordern lassen zu sehen, was ich sonst eher schnell übersehe.
So will ich meinen Blick schärfen, vielleicht für das Kind im Konfirmandenunterricht, das sonst eher nicht mitspielen darf und am Rande steht. Oder für die Kollegin, die schon seit Tagen einen bedrückten Eindruck macht und aussieht, als ob ihr eine Last auf der Seele liegt. Für den Bettler, der jeden Tag auf den Stufen vor dem Einkaufszentrum sitzt. Ja, es ist nur einer von vielen. Und das Leid der Welt wende ich damit nicht ab. Aber ich finde mich auch nicht damit ab. Ich glaube, das ändert schon viel: zu sehen und den anderen spüren zu lassen: Du bist unendlich kostbar. Und vielleicht erlebt dann der- oder diejenige ja auch dieses Froschgefühl: einfach mal wieder glücklich sein!