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Segen oder Fluch - was gewinnt in unserem Leben die Oberhand?

Segen oder Fluch - was gewinnt in unserem Leben die Oberhand?

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt

Der Text auf der Geburtstagseinladung war eindeutig: Bitte keine Reden und keine Geschenke! Klar, der Jubilar wurde achtzig. Er hatte bereits ein Zimmer in einem Altersheim ausgesucht. Alles gut geordnet! Nein, brauchen konnte er wirklich nichts mehr! Während des Festessens stand plötzlich doch jemand auf, um zu reden. Es war sein Sohn. Die Beziehung zwischen seinem Vater und ihm war nicht einfach gewesen. Die Eltern hatten sich früh getrennt. Der Sohn hatte bei seiner Mutter gelebt, die vor einigen Jahren gestorben war. Seinen Vater hatte er nur sporadisch gesehen. Irgendwann hatte sich der Vater dazu bekannt, homosexuell zu sein. Er hat eine Zeitlang mit einem Mann im Alter seines Sohnes zusammengelebt.

Die Rede des Sohns überraschte mich. Streng genommen hielt er nämlich keine Rede. Er reihte Erinnerungen aneinander. Er ließ sie ungeordnet und unverbunden – ganz ohne Pathos: Ein Satz – ein Gedanke. Das Moos auf der Treppe im Garten, der Geruch im Keller der Großeltern, die klemmende Schublade in der Küche. Vater und Sohn beim Schwimmen im See. Diese Erinnerungen waren wie hingehaucht – zarte Striche, nicht kräftige Farben. Und doch ließen sie Bilder entstehen – schöne Bilder. In diesen Bildern entstand ein zweites Leben. Ein Leben, das nicht von den Schwierigkeiten dieser Vater-Sohn-Beziehung bestimmt war. Vielmehr ein Leben, in dem es Nähe und Geborgenheit gegeben hatte. Wie unverbunden standen diese beiden Leben nebeneinander: das Helle und das Dunkle – Fluch und Segen!

In einer gewissen Hinsicht macht jeder diese Lebenserfahrung. Die eine klare und helle Beziehung gibt es nicht. Bei unseren Eltern, in unseren Partnerschaften oder im Blick auf Freundschaften gibt es eigentlich immer beides: das Scheitern und das Gelingen. Und manchmal belastet das Scheitern das ganze Leben. Wünsche bleiben unerfüllt, Verletzungen werden nie geheilt.

Gelegentlich treffe ich Menschen wie diesen Sohn, denen es gelingt, die guten Kindheits- und Lebenserfahrungen neben den belastenden stark zu machen. Sie lassen es nicht zu, dass der Fluch ihr Leben bestimmt und Beziehungen einfach abgebrochen werden. Diese Menschen machen ihr Leben fest am Segen. Für mich sind sie nicht die Schönredner der eigenen Vergangenheit oder bloße Idealisten, die einfach nur an das Gute glauben wollen. Sie nehmen sich die Freiheit, sich selbst als „Gesegnete“ zu sehen. Sie glauben an die Kraft der Liebe. Am Ende der Rede weinte der Vater und nahm den wiedergewonnenen Sohn in seine Arme – fast das biblische Bild!
 

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