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Die „fremde“ Bibel
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Die „fremde“ Bibel

Dr. Willi Temme
Ein Beitrag von Dr. Willi Temme, Evangelischer Pfarrer, Martinskirche Kassel
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„Sie werden lachen: Die Bibel!“ – Das war die Antwort von Bertolt Brecht auf die Frage: „Welches Buch hat den stärksten Eindruck auf Sie gemacht?“

„Sie werden lachen: Die Bibel!“ – meines Wissens ist nicht überliefert, ob der Fragesteller damals wirklich gelacht hat über Brechts Antwort. Aber dass er verwundert oder gar verblüfft war – davon können wir wohl ausgehen.

Denn Bert Brecht, und das war allen klar, war alles andere als ein Mann des Glaubens oder der Kirche. Er war ein kritischer Geist, der gerne alles hinterfragte. Und „Gott“ war für ihn keine Wirklichkeit.

Und dennoch war da seine Leidenschaft für die Bibel. Er liebte die vielen „krassen“ Geschichten – wie man heute vielleicht sagen würde. Geschichten, die den Menschen in all seinen Höhen und all seinen Tiefen zeigen. Und Brecht liebte die Kraft der biblischen Sprache.

Es war die Bibel in der Übersetzung Martin Luthers, von der er sich beeindrucken ließ und von der er viel gelernt hat für sein eigenes schriftstellerisches Schaffen.

Die Lust an der Bibel und ihren Worten und Geschichten soll auch heute Morgen die Leitschnur sein für unsere Gedanken in dieser Morgenfeier. Vielleicht gelingt es mir ja, Sie mit dem einen oder anderen Ausschnitt zu überraschen. Ich jedenfalls war sehr überrascht, ja verblüfft, auf was ich da in letzter Zeit so alles gestoßen bin. Ich möchte Ihnen ein wenig davon erzählen.

MUSIK 1    Wilhelm Peterson Berger, Sinfonie Nr. 2 „Sunnanfard“, 3. Satz, bis 2'04''

Als Pfarrer hat man die Bibel spätestens im Studium natürlich mal von vorne bis hinten gelesen. Aber ich gestehe, in der Folgezeit war es dann doch vor allem das Neue Testament, die ersten beiden Bücher Mose und die Psalmen, die ich wiederholt im Zusammenhang gelesen habe.

Jetzt aber, vor einigen Monaten war es anders. Ich war etwas krank und musste mich ins Bett legen. Und als Lektüre wählte ich mir die Bibel. Und was für Überraschungen erlebte ich da! Nicht zuletzt waren es die großen alttestamentlichen Propheten, Jesaja, Jeremia und Ezechiel, die mich mit ihrer außerordentlichen Sprachkraft in den Bann gezogen haben. Vieles kam mir fremd vor, so, als würde ich es zum ersten Mal hören und zur Kenntnis nehmen.

Wenn man diese Bücher im Zusammenhang von vorne bis hinten liest, dann – so hatte ich den Eindruck – wird man hineingenommen in eine Art Zerstörungsrausch. Zerstörungsrausch? – Sie werden stutzen. Was soll denn damit gemeint sein?

Ich meine damit die nicht enden wollenden Anklagen gegen das von Gott erwählte Volk Israel und die Prophezeiung eines schrecklichen Strafgerichts, das Gott an seinem Volk halten will.

Im Zusammenhang unserer Gottesdienste kommen ja aus den Propheten meistens nur die sog. Heilsweissagungen vor. Das heißt die Teile, wo Gott seinem Volk Israel eine neue und bessere Zukunft verspricht.

Aber, wie gesagt, den größten Raum in den Prophetenbüchern, so hat es sich mir eingeprägt, nehmen die Unheilsworte ein. Wieder und wieder wird die Schuld des Volks benannt und wieder und wieder wird in den kräftigsten Farben ausgemalt, wie brutal die Zerstörung sein wird, die über das Gottesvolk kommen wird. Ich möchte Ihnen hier ein Beispiel geben: 

Als Ursache für das Strafgericht Gottes wird in Ezechiel 22 (V. 29) genannt: 

Das gemeine Volk verübte Gewalttat und trieb Raub,

bedrückte den Armen und Dürftigen

und tat dem Fremdling widerrechtlich Gewalt an.

 Und es stockt einem der Atem, wenn man im Kapitel davor liest, wie Gott diese Verfehlungen rächen will. In Ezechiel 21 heißt es: 

Und es erging an mich das Wort des Herrn:

Menschensohn, weissage und sprich: So spricht der Herr:

Ein Schwert, ein Schwert ist geschärft, ist blankgefegt!

Um zu schlachten ist es geschärft; um blitzend zu blinken, ist es gefegt.

Ich gab es dem Schlächter, es mit der Faust zu fassen; …

Und du, Menschensohn, weissage und klatsche in die Hände! Und verdoppeln wird sich das Schwert und verdreifachen; ein Schwert zum Morden ist es, das große Mordschwert, das sie umkreist.

Auf dass ihr Herz verzage und der Stürzenden viele seien an all ihren Toren, habe ich das Morden des Schwertes verordnet.

Du Schwert, gemacht zum Blitzen, gefegt zum Morden, sei schneidig, fahre nach rechts und fahre nach links, wohin deine Schneide bestellt ist …

Ich, der Herr, habe es geredet. 

Sie werden mir zustimmen: Soviel Zerstörungswut verschlägt einem doch erst einmal die Sprache. 

MUSIK 2    Wilhelm Peterson Berger, Romance in d-Moll für Violine und Orchester, Beginn bis ca. 1'30'' 

Ich gestehe, ich hatte durchaus meine Zweifel, ob man denn einen so brutalen Bibeltext wie den gerade gehörten aus dem Buch Ezechiel am frühen Sonntagmorgen vortragen kann. Ja, eigentlich hatte ich meine Zweifel auch daran, ob man so einen Text überhaupt öffentlich vorlesen darf.

Denn wird hier nicht dem Missverstehen und dem Missbrauch des Textes Tür und Tor geöffnet?

Ein Gericht Gottes am Volk Israel - werden sich da am Ende nicht die Falschen angesprochen fühlen? Die Antisemiten und Holocaust-Leugner? Ist so ein Text nicht geradezu gefährlich und politisch vollkommen inkorrekt?

Ich habe schließlich dann doch meine Zweifel beiseite geschoben und mich für den Text entschieden.

Zum einen möchte ich Ihnen ja gerne von meinen Bibel-Leseerfahrungen berichten – und dazu gehört wesentlich auch das Erstaunen und Erschrecken über so manch einen schwierigen Abschnitt! Die Macht der Sprache fasziniert mich, aber der Inhalt ist mir fremd. Denn ich kann nicht an einen Gott glauben, der gewalttätig ist und der töten und zerstören will. Da liegt für mich ein großes theologisches Problem. Und viele Fragen bleiben da offen.

Und zum anderen habe ich mich für das Vorlesen des Texts entschieden, weil mir dann eingefallen ist: In früheren Zeiten war es nur ganz wenigen Menschen erlaubt, die Bibel zu lesen. Die Kirche und der Staat waren der Meinung: Die Bibel als Ganze sollte für das sogenannte gemeine Volk tabu sein.

Das Bibelwort darf man nicht den sogenannten Laien in die Hände geben! Das war ihre Meinung. Denn die Mächtigen erkannten mit gutem Grund: In diesem Wort liegt Sprengstoff. Dieses Wort könnte uns, den Mächtigen, schaden, ja es könnte die ganze Gesellschaft durcheinander wirbeln.

Auf diesem Hintergrund war es wirklich revolutionär, dass Martin Luther der Meinung war: Jeder Christ und jede Christin sollte einen Zugang zur Bibel haben – und zwar zur ganzen Bibel, nicht nur zu einigen vermeintlich ungefährlichen Ausschnitten.

Nach Luther sollte der Zugang zum einen durch Bildung geschaffen werden: Jungs und Mädchen sollen lesen lernen! Und zum anderen durch eine Bibel, die verständlich ist und die möglichst in allen Haushalten angeschafft werden kann.

Wenn morgen, am Reformationstag, das Jubiläumsjahr „500 Jahre Reformation“ eingeläutet wird, dann sollten wir uns vor allem an diesen revolutionären Akt erinnern: Alle Menschen sollen die ganze Bibel lesen können! In der katholischen Schwesterkirche hat es doch tatsächlich bis zum 2. Vatikanischen Konzil gedauert, das heißt bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts, bis sich diese Erkenntnis auch da voll und ganz durchsetzen konnte.

Bibel-Lesen und Bibel-Vorlesen darf keine Tabus kennen! Denn vor dem Missbrauch ist kein Wort gefeit. Und auch nicht das Wort, das viele als das „Wort Gottes“ verehren. Mit der Bibel sollen wir frei umgehen und nicht ängstlich! Mit der Bibel kommt man auf neue Gedanken. 

MUSIK 3    Wilhelm Peterson Berger, Sinfonie Nr. 2 „Sunnanfard“, 3. Satz ab 2'05'' bis 4'09'' 

„Sie werden lachen: Die Bibel!“. Bert Brecht, von dem dieses Wort stammt, konnte sich als Künstler und Schriftsteller eine Menge von der Bibel abgucken. Nicht nur die enorme Sprachkraft ihrer Texte – unüberbietbar in den prophetischen Büchern! Sondern er konnte auch von der biblischen Kunst lernen, auf engem Raum und mit wenigen Worten perfekte Szenen zu entwerfen, die den Menschen und das Menschliche geradezu plastisch darstellen.

Herausragende Beispiele dafür sind die vielen kurzen Jesus-Erzählungen, die uns die Evangelien im Neuen Testament vor Augen stellen.

Aber da ich Ihnen heute Morgen ja von den Überraschungen meiner eigenen Bibellektüre berichten möchte, soll hier noch ein Ausschnitt aus dem alttestamentlichen Buch der Sprüche folgen.

Da wird im 7. Kapitel eine Verführungsszene geschildert, die wahrhaft bühnenreif ist. Der Zusammenhang ist der, dass der Vater seinen Sohn warnen will, sich ja nur nicht mit der Frau eines anderen einzulassen und sollte die auch noch so verführerisch sein. Und nun schildert der Vater, der ein Lehrer der Weisheit ist, wie eine solche Verführung aussehen kann. Da heißt es im Buch der Sprüche Kapitel 7 (V. 6ff) von der fremden Frau:

Denn sie schaut im Fenster ihres Hauses hinter dem Gitter hervor. Da sieht sie unter den Einfältigen einen Jüngling, bemerkt einen Unverständigen unter den Jungen, der an einer Ecke in die Gasse einlenkt und gegen ihr Haus zuschreitet in der Dämmerung, bei der Neige des Tages, zur Zeit der Nacht und des Dunkels.

Siehe, da läuft ihm die Frau entgegen im Aufzug einer Dirne und verschmitzten Herzens. Aufgeregt ist sie und unbändig, ihre Füße finden im Haus keine Ruhe. Bald ist sie auf der Gasse, bald auf den Plätzen, an allen Ecken lauert sie.

Die fasst ihn und küsst ihn, und mit frecher Miene spricht sie zu ihm: … „Ich bin ausgegangen, dir entgegen, um dich zu suchen und nun habe ich dich gefunden. Mit Teppichen habe ich mein Lager bedeckt, mit bunten Tüchern von ägyptischem Linnen. Ich habe mein Bette mit Myrrhen besprengt, mit Aloe und mit Zimmet. Komm, wir wollen uns an Wollust berauschen bis zum Morgen, wollen miteinander schwelgen in Liebe; denn der Mann ist nicht zu Hause, er ist fernhin auf Reisen gegangen. Er hat den Geldbeutel mit sich genommen; erst am Vollmond kommt er wieder heim.“

An dieser Stelle blenden wir uns aus dieser nächtlichen Szene wie aus Tausendundeiner Nacht aus. Ich glaube, ich habe Ihnen nicht zu viel versprochen, was das Theatralische dieses Textes ausmacht. Und wenn Sie wissen möchten, wie es mit dieser biblischen Geschichte weitergeht, dann greifen Sie doch einfach selber zur Bibel. Und ich verspreche Ihnen unüberbietbaren Lesegenuss.

MUSIK 4    Wilhelm Peterson Berger, Romance d-moll, ab 4'17'' (4'00'') bis ca. 6' 

Die Bibel zu lesen – dafür kann es sehr viele Gründe geben. Der wichtigste ist wohl: Ich möchte Orientierung für mein Leben finden und ich möchte herausfinden, was es mit Gott und mit dem Glauben auf sich hat.

Ein anderer Grund, die Bibel zu lesen, kann aber auch sein: Ich möchte die spannendsten Texte kennenlernen, die je von Menschen geschrieben wurden. Ich habe Lust auf große Literatur! Beides sind gute Gründe, zur Bibel zu greifen.

Ich selber habe zuhause eine ganze Reihe von verschiedenen Bibelübersetzungen. Und je nach dem, greife ich zu der einen oder zu der anderen.

Für das Neue Testament und die Psalmen ist mir Luthers Übersetzung die liebste. Für weite Teile des Alten Testaments nehme ich gerne die sogenannte Zürcher Bibel zur Hand. Und in den letzten Jahren habe ich auch Gefallen gefunden an der neuen sogenannten Basis-Bibel. Das ist eine Übersetzung der Bibel ins heutige Deutsch und besonders auch für Kinder und Jugendliche sehr gut geeignet. Bislang gibt es davon allerdings nur das Neue Testament und die Psalmen.

Sollten Sie zuhause keine Bibel haben: Ich verspreche Ihnen, die Anschaffung lohnt sich! Es gibt wohl nichts auf der Welt, wo Sie für so wenig Geld so viel geboten kriegen! Ich wünsche Ihnen eine spannende und durchaus gesegnete Lektüre!

MUSIK 5    Wilhelm Peterson Berger, Sinfonie Nr. 2 „Sunnanfard“, 3. Satz, ab 8'53'' bis 11'18''

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