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Ein Glas Wasser - mehr als eine Geste

Ein Glas Wasser - mehr als eine Geste

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt

In Südfrankreich betreten wir ein Restaurant – es ist heiß, alle haben Durst. Kaum sitzen wir, bringt die Kellnerin eine Karaffe mit Wasser und Gläser. Einfach so – eine schöne Geste! Ein kaltes Glas Wasser, das einfach das Beste, wenn man Durst hat. Das empfindet jeder am Tisch. Das ist seit biblischen Zeiten so. An vielen Stellen wird im Alten und Neuen Testament berichtet, dass vorbeireisenden Fremden Wasser gereicht wird. Wasser zum Trinken und Wasser zum Waschen.

Zum Beispiel Abraham. Drei fremde Männer vor seinem Zelt begrüßt er mit den Worten: „Man soll euch gleich ein wenig Wasser bringen, eure Füße zu waschen, und lasst euch nieder unter dem Baum“. In wasserarmen Gebieten wie der Steinwüste des Negev war ein solches Angebot für Reisende überlebensnotwendig. Wasser war eine Kostbarkeit, denn es war nur an wenigen Orten verfügbar. Es musste aus versteckten Quellen mühsam geschöpft werden.

Jemanden Wasser anzubieten, war eine Einladung zum Auftanken, zum Bleiben. „….lass dich nieder unter dem Baum!“ Sie verwandelte den Fremden in einen Gast. Sie gab ihm einen Status in der Sippengemeinschaft, wenn auch vorübergehend.

Diese Einladung war durchaus nicht nur eine nette Geste. Sie war eine Spielregel des nomadischen Lebens: Wer einem Fremden das Haus oder Zelt öffnete, der wusste: Schon morgen kann ich der Fremde sein, der froh ist, wenn er mit Wasser versorgt und aufgenommen wird. Wasser zu reichen war also ein Prinzip auf Gegenseitigkeit.

Die Kellnerin in Südfrankreich wird die Karaffe Wasser später nicht abrechnen – in Frankreich ist dies nicht üblich. Diese kleine Geste schafft eine neue Beziehung zwischen uns: Wir sind nicht mehr nur noch Kunden oder Klienten, sondern eben Gäste.

Im Alltag muss es vielleicht nicht das Glas Wasser sein, aber es gibt eine Fülle von kleinen Gesten, die ähnliches ausdrücken: Ich biete jemandem einen Stuhl an, der kurz mein Büro betritt. Ich sage auch für eine Kleinigkeit zu jemandem „danke“! Diese scheinbar harmlosen, kleinen Formen des Umgangs bewirken etwas Großes. Sie geben meinem Gegenüber Wert und Würde – sie schaffen Beziehung!

Besonders wichtig sind diese Gesten für die, die von anderen abhängig sind, weil sie krank, schwach oder hilfebedürftig sind. Ich bewundere Pflegekräfte in Altenheimen oder Beratende im Job-Center, die sensibel und achtsam im Umgang sind. Die nicht müde werden, die Klaviatur der kleinen Gesten zu nutzen, um aus Fällen „Menschen“ zu machen.

Schon morgen kann ich die Fremde sein, die froh ist, wenn ihr Wasser gereicht und sie aufgenommen wird.

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