Lebenskreuz

Lebenskreuz

Gudrun Olschewski
Ein Beitrag von Gudrun Olschewski, Evangelische Pfarrerin, Pfungstadt

Jedes Mal, wenn ich an dem Baum vorbeifahre, erinnere ich mich an Dirk. Gerade mal achtzehn Jahre alt war er damals. Ein junger Mann, voller Tatendrang und frisch verliebt. Auf dem Weg zu seiner Freundin prallte er geradewegs auf einen Baum und war sofort tot. Viele, viele Jahre ist das jetzt schon her. Für uns als Klassenkameraden war das ein Schock. Schnell wurde darüber spekuliert, wie es geschehen konnte und vor allem warum? „Wieder einmal viel zu schnell gefahren“, sagten einige oder andere: „Er hat die Kurve viel zu leichtsinnig genommen“. Und auch Vorurteile waren schnell zur Hand: „Wieder mal nicht aufgepasst“. „War ja nicht anders zu erwarten.“ Oder „Selber schuld“.

Das kleine Kreuz, das damals neben dem Baum aufgestellt wurde, gibt es noch, auch wenn ich seinen Namen und darunter die kleine Jahreszahl samt Monat und Tag kaum noch lesen kann. Immer mal wieder werden frische Blumen um das Kreuz gepflanzt, bis heute. Es sind liebevolle und zugleich schmerzliche Erinnerungen.

Buchstäblich durch die Blume stellen Eltern und Freunde immer wieder aufs Neue diese eine Frage: „Warum musste ein junger Mensch an dieser Stelle sein noch nicht gelebtes Leben lassen?“ Wenn ich wieder einmal an dem Baum vorbeifahre, dann bin ich auch wieder froh über das zweite Kreuz, das große mit dem Dach als Wetterschutz. Es stand schon vor dem kleinen neben dem Baum an der Straße.

Auch ohne Namen und Jahreszahl weiß ich, an wen es mich erinnern will: an Jesus von Nazareth, von dem Christen glauben, dass er den Tod für immer besiegt hat. Mir tut es gut, dass ich hinter dem kleinen immer auch das große Kreuz sehen darf - und mit ihm das Leben.

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