Aus Gottes Hand
„Ich esse am liebsten Marmelade“, sagt die alte Frau zu mir, „die schmecke ich. Mein Geschmackssinn hat mich im Alter völlig verlassen, nur ganz Süßes schmecke ich noch.“ Das Haar der alten Dame ist weiß, gerade ist sie 90 geworden. Beim Frühstück erzählt sie mir von ihrem Leben. Kindheit und Jugend sind geprägt von den Wirren der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus. Sie lernt Erzieherin, sie verliebt und verlobt sich. Natürlich wird der Verlobte eingezogen - und verletzt. Doch trotz mehrerer Fronteinsätze überlebt er, im März 1945 heiraten sie, „eine echte Kriegshochzeit“ sagt die alte Dame, „es gab nur Kaffee und Streuselkuchen aus gesparten Lebensmittelkarten, und beim Kaffee mussten wir noch in den Luftschutzbunker flüchten.“
1946 in einem zerbombten Deutschland, kommt die erste Tochter zur Welt. „Kinderkleidung“ sagt die alte Frau „gab es damals nicht, ich musste alles selber machen.“ Auf das erste Kind folgen fünf weitere, langsam wird aus dem Trümmerland das Wirtschaftswunderland. Doch vermutlich ahne ich nicht einmal, wieviel Arbeit diese Frau tagtäglich gehabt haben muss mit wenig Geld und so vielen Kindern, als noch keine Wasch- und Spülmaschinen die Arbeit erleichterten. Aber kein Wort des Klagens kommt über ihre Lippen. Auch über den frühen Tod der ersten Enkelin spricht sie, mit Trauer in der Stimme, aber ohne Verbitterung.
Sie freut sich über die vielen Enkel, die sie noch bekommen hat. Vor ein paar Jahren starb ihr Mann, aber auch darüber jammert sie nicht. Ein ums andere Mal sagt sie im Gespräch, „Gott hatte seine Hand immer über mir. Ich muss dankbar sein.“ In mir macht sich langsam Staunen breit. Ein hartes Leben, und doch hat sie so viel Liebe zum Leben, so viel Glaube. Ich frage sie, ob sie sich nicht manches im Leben anders gewünscht hätte. Aber da zuckt sie nur mit den Schultern und sagt: „Ich nehme alles aus Gottes Hand wie es kommt. Danach hab ich immer gelebt.“
Diese Frau beeindruckt mich. Wie oft stöhne ich über meine Lebensumstände, die doch so viel leichter sind als ihre es waren. Das Leben aus Gottes Hand nehmen – das nehme ich mir zum Vorbild.