Das Haus der Trauer
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Das Haus der Trauer

Rüdiger Kohl
Ein Beitrag von Rüdiger Kohl, Evangelischer Pfarrer, Frankfurt-Bockenheim

Günter war 28 Jahre lang glücklich mit Annegret verheiratet. Eine lebenslustige Frau, die gerne in ihrem Beruf gearbeitet hat. So gerne hat er mit ihr zusammen an den Wochenenden den Garten gepflegt. Eines Tages erkrankte sie an Krebs. Innerhalb eines Jahres starb sie. Er pflegte sie zuletzt zu Hause. Mit großer Liebe und Geduld.

Nach ihrem Tod war alles anders. Sie fehlte ihm sehr. Er fiel in ein Loch und ging kaum noch aus dem Haus. Anfangs halfen alle Angehörigen, wo sie konnten. Ein Freund empfahl ihm eine Trauergruppe, mit Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind. Doch er ging nur einmal hin. Seine beiden Söhne wollten bald ihren Vater gar nicht mehr besuchen, weil er ihnen Vorwürfe machte. Sie würden zu selten kommen. Wenn man sich mit Günter unterhält, hat man den Eindruck, seine Frau sei gerade erst gestorben. Aber es sind mittlerweile fünf Jahre vergangen. Nach dem Tod eines geliebten Menschen ist es normal, ihn zu betrauern. Doch Günter bleibt gefangen in seinem Schmerz. Er schafft es nicht, sich wieder dem Leben zuzuwenden.

Menschen, die Trauernde professionell begleiten, haben ein schönes Bild gefunden, um den Prozess des Trauerns zu beschreiben. Sie stellen sich Trauer vor wie ein Haus mit verschiedenen Räumen. In diesen Räumen können die verschiedenen Gefühle und Erfahrungen gelebt werden: Es gibt des Raum des Schmerzes, der zuerst betreten wird; in dem laut oder leise geklagt werden kann; wenn die Ohnmacht übermächtig scheint. Das Haus hat auch den Raum der Erinnerung, mit vielen Bildern, die an das Leben mit dem Verstorbenen erinnern. Daran schließt an der Raum der Liebe, die nicht endet; die Verstorbene und Trauernde miteinander verbindet. Und schließlich gibt es den Raum der Wandlung, wo die Zukunft klarer wird.

Dieses Bild vom Haus der Trauer meint: Trauer verläuft nicht geradlinig. Sie ist kein Parcours, der mit dem Zieleinlauf endet. Im Haus der Trauer lädt jeder Raum ein, zu bleiben, weiterzuziehen und manchmal auch zurückzukehren. Und in jeden Raum können andere Menschen eingeladen werden, die den Trauernden das vorbeibringen, was sie gerade brauchen. Die mit den Trauernden gemeinsam den Raum gestalten und weiterziehen.

An dem Bild gefällt mir auch gut: Das Haus hat einen Garten. Es ist umgeben vom Garten der Sehnsucht. Sehnsucht auf ein Wiedersehen mit dem geliebten Menschen. Sehnsucht nach  Ruhe für die eigene Seele. In dem leuchtende Pflanzen der Hoffnung blühen. Von diesem Garten her fallen Licht und Farbe in die einzelnen Räume.

Günter ist noch immer im Raum des Schmerzes gefangen. Schmerzen wollen jedoch nicht ausgekostet werden, sondern zielen darauf, verändert und geheilt zu werden. Günter könnte sich langsam vortasten. Er könnte sich an seine Frau dankbar erinnern und daran, wie glücklich sie immer war, wenn im Garten die Blumen blühten. Er könnte sich fragen: Was würde meine so lebenslustige Frau jetzt sagen, wie ich leben soll? Dann wären sie offen, die Türen. Die Türen zu den nächsten Räumen der Erinnerung, der Liebe und der Wandlung.

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