Mit der Erinnerung beginnt das Verstehen

Mit der Erinnerung beginnt das Verstehen

Dr. Ulf Häbel
Ein Beitrag von Dr. Ulf Häbel, Evangelischer Pfarrer, Laubach-Freienseen

Nach vielen Jahren habe ich wieder einmal das Dorf meiner Kindheit besucht. Da hat sich vieles verändert, in den fünfzig Jahren, die ich von dort weg bin. Die Hauptstraße, an er ich einmal gewohnt habe, ist viel breiter und verkehrsreicher geworden. Wo einmal Vorgärten waren, sind Parkplätze entstanden. Kleine Geschäfte, die es einmal gab, sind verschwunden, dafür gibt’s einen Supermarkt. Der Bauernhof, in dem ich als Kind häufig war, ist weg; das Haus, in dem ich damals wohnte, nicht mehr zu erkennen.

Vieles hat sich verändert; das habe ich bei dem Spaziergang durch meine frühere Heimat gesehen. Doch ein Ort ist ziemlich gleich geblieben, der Friedhof über dem Dorf. Da ist auch nicht alles genauso geblieben wie es vor fünfzig Jahren war. Einzelne Gräber werden nach einer gewissen Zeit abgeräumt. Es gibt Familiengräber, auf denen Namen stehen, die ich aus meiner Kindheit kenne; die sind geblieben und der ganze Friedhof in seiner Anlage auch.

An einer Stelle auf dem Friedhof steht ein Denkmal mit vielen Namen von Menschen, die im Krieg umgekommen sind. Da steht auch der Name meines Vaters. „Vermisst“ steht dahinter. Das heißt, dass niemand weiß wo und wann mein Vater im letzten Weltkrieg gestorben ist. Er  kam aus dem Krieg nicht zurück, so hat es meine Mutter zu uns Kindern immer gesagt. Wir haben ihn vermisst. So steht es ja auf dem Gedenkstein. Als ich davor gestanden habe, dachte ich: Gut, dass dieses Denkmal nicht abgeräumt worden ist. Gut, dass es bleibt und seine Botschaft weiterträgt. Denk mal nach über die vielen Namen der Gefallenen und der Vermissten. Denk mal nach über die Zeit, in der sie gelebt haben und sterben mussten.

Das Dorf meiner Kindheit hat sich sehr verändert, der Friedhof kaum. Es ist ein Ort, an dem die Geschichte des Dorfes sichtbar ist, ein Ort der Erinnerung. Auf den alten Grabsteinen und Denkmälern kann man Namen lesen, von Familien, die hier schon immer daheim waren. Manchmal stehen Berufe dabei und man versteht: Das war mal ein Fischerdorf oder eines von Leinwebern, Messerschmieden, Bergarbeitern. Manchmal erinnert so ein Denkmal an Katastrophen, denen unser Leben ausgesetzt ist.

Deshalb darf man die alten Gräber und Denkmäler nicht einfach abräumen. Friedhöfe sind gute Orte für die Erinnerung, für das Nachdenken darüber, was einmal war oder einem Ort widerfahren ist. Man muss wissen woher man kommt, um zu verstehen wer man ist.

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