Den Anfang des neuen Tages retten!

Den Anfang des neuen Tages retten!

Ein Beitrag von Prof. Dr. Ilona Nord, Evangelische Pfarrerin und Professorin für Religionspädagogik, Würzburg

„Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich.“ Ein Sprichwort mit einer tiefen Weisheit.  „Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich.“ Wenn ich mich dem Licht zuwende, werden die Last und die Schatten vergangener Stunden und Tage zweitrangig. Und es sind wohl auch die Schatten der Zukunft, die hinter mich fallen, wenn ich mein Gesicht der Sonne zuwende. Es ist kein Zufall, dass es so viele schöne Lieder über die Sonne und das Licht am Morgen gibt. Mir gefällt besonders gut: „Morgenlicht leuchtet, rein wie am Anfang“. Das ist die deutsche Version von „Morning has broken“.

Ein anderes Sonnen– und Morgen–Lied verdanken wir dem großen evangelischen Dichter Paul Gerhardt (EG 449,1): „Die güldne Sonne voll Freud und Wonne bringt unsern Grenzen mit ihrem Glänzen ein herzerquickendes liebliches Licht. Mein Haupt und Glieder, die lagen darnieder; aber nun steh ich, bin munter und fröhlich, schaue den Himmel mit meinem Gesicht.“

Am Morgen den Himmel mit meinem Gesicht schauen – da klingt etwas von der aufrechten und doch gelassenen Haltung an, von Stärke und von Freiheit, das Gesicht dem Himmel zugewandt. Den ganzen Tag über lasten Mühen auf den Schultern, drücken den Kopf der Erde entgegen. Oft genug geht dabei der Blick fürs Ganze und für die Gegenwart verloren. Ein Schatten liegt darüber. Und nun am Morgen: „...nun steh ich, bin munter und fröhlich, schaue den Himmel mit meinem Gesicht.“

Der Anfang eines neuen Tages hat für mich etwas Besonderes. Auch dieser Samstagmorgen. Am Beginn eines Tages, wenn sich die Nacht in der Dämmerung verliert, berührt der Mensch die Ewigkeit – so sagen es die großen Lehrer der Meditation. Und sie raten mir, diesen wertvollen Augenblick zu nutzen. Nicht in der Nacht versteckt zu halten und auch nicht schnell dem beginnenden Tag zu opfern. Den Anfang des neuen Tages für mich selber retten – das ist ein kleiner Schritt mit großer Wirkung. Dieser Augenblick am Morgen ist wie geschaffen dafür, dass ich gegenwärtig bin, die Gegenwart bejahe als den Ort, an dem ich lebe.

Das kann ich auch üben, indem ich mich mir nur ein oder zwei Minuten Zeit nehme. Mich einübe in die Kunst, den Anfang eines neuen Tages bewusst entgegenzunehmen. Was zurückliegt, darf ich getrost vergangen sein lassen. Und was auf mich zukommt, ist jetzt noch nicht da. Wer sich in die Gegenwart hinein sinken lässt, kann Gott finden. Kann den Himmel offen sehen. Und dabei spüren, was Gelassenheit bedeutet, die Kraft, die sich aus der Ruhe speist - nicht aus der Anspannung. Versuchen wir’s doch mit dem alten Sprichwort: „Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich.“

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