Was willst du, das ich für dich tue?
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Was willst du, das ich für dich tue?

Dr. Anke Spory
Ein Beitrag von Dr. Anke Spory, Evangelische Pfarrerin, Bad Homburg-Gonzenheim

Eine Frau erzählt mir: Als ich ein Kind war habe ich oft gesagt: Mir ist kalt. Und dann hat mein Vater geantwortet: Hier ist es doch gar nicht kalt. Stell dich nicht so an. Zwischen den Sätzen „mir ist kalt“ und „hier ist es doch gar nicht kalt“ liegen sprachlich nur Nuancen. Aber sie bedeuten etwas völlig verschiedenes. Mit dem Satz: Mir ist kalt, sage ich, was ich empfinde. Der Satz „hier ist es doch gar nicht kalt“ ordnet das in einen scheinbar objektiven Zusammenhang ein: Hier ist es nicht kalt, also kann dir gar nicht kalt sein.

Die Frau erzählt weiter: Es hat lange gedauert, bis ich gelernt habe meine eigenen Empfindungen ernst zu nehmen. Ob es mir kalt war oder ob das gar nicht sein konnte, ist nur eine von vielen in meiner Lebensgeschichte gewesen. Ich habe erst langsam gelernt, meinen Empfindungen zu trauen. Ich musste auch lernen, es nicht anderen zu überlassen, besser zu wissen, wie es mir geht.

Was die Frau erzählt hat, erinnert mich an Situationen mit meinen Kindern: Mir tut das Knie weh, sagt mein Kind- und ich reagiere: Das kann doch gar nicht so wehtun. Oder meine Älteste kommt zu mir und sagt: Ich bin traurig. Und ich sage, das ist doch kein richtiger Grund zum Traurigsein. Das Schema ist das gleiche: Ein Mensch äußert, was er fühlt, der andere deutet das sofort und gibt vor, die Empfindungen besser einschätzen zu können. Eigentlich nimmt er sie damit gar nicht ernst.

Die eigenen Empfindungen ernst nehmen. Dies kann einen Menschen stärken, ja sogar heilen. Viele Geschichten von Jesus erzählen davon, wie Jesus Menschen Mut macht, sich nicht scheinbaren Autoritäten unterzuordnen, sondern sich selbst ernst zu nehmen. Für mich zeigt das besonders die Geschichte, in der Jesus nach Jericho komm. Dort lebt schon lange ein blinder Mann. Er hört, dass Jesus in der Stadt ist und schreit laut, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Menschen um ihn herum fahren ihn an, er solle still sein. Der blinde Mann brüllt umso lauter. Jesus bekommt das mit, er lässt den Blinden zu sich bringen und fragt ihn: Was willst du, das ich für dich tue? (Lukas 18, 41)

Es ist eine ganz einfache Frage: Was willst du, das ich für dich tue? Das heißt doch: Sag du mir, was du brauchst. Jesus deutet nicht, er interpretiert auch nicht. Er sagt nicht: du willst doch bestimmt sehen können. Jesus fragt: Was willst du, das ich für dich tue? Diese Frage macht aus dem Blinden ein Subjekt. Er ist nicht mehr Objekt. Er alleine weiß und kann sagen, was ihm fehlt. Jesus fragt nach: Was brauchst du? Diese offene Frage macht es dem Mann möglich, ehrlich zu sagen, was er braucht.

Für mich zeigt Jesus besonderen Respekt gegenüber dem Blinden. Er macht deutlich: Entscheidend ist, was du für dich willst und brauchst. Und nicht, was andere denken, was du brauchst. Offenbar weiß Jesus: Sich selbst und seine Empfindungen deuten zu können und deuten zu dürfen ist wichtig. Ich darf es nicht nur anderen überlassen, die eigenen Bedürfnisse zu deuten. Das kann dazu führen, dass ein Mensch das Vertrauen in seine eigenen Bedürfnisse verliert.

Ich wünsche mir das, wenn sich Kinder und Eltern begegnen oder wenn Ärzte und Patienten reden, überhaupt, wenn Menschen miteinander sprechen: Dass sie einander zugestehen, die eigenen Empfindungen selbst deuten zu können und zu dürfen.

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