Guck mal!

Guck mal!

Dr. Anke Spory
Ein Beitrag von Dr. Anke Spory, Evangelische Pfarrerin, Bad Homburg-Gonzenheim

Guck mal! ruft mein Sohn, und dreht mit seiner Hand mein Kinn, dass wir uns direkt in die Augen schauen. Guck mal, fordert er mich auf, mein Zahn wackelt. Wahrgenommen und gesehen werden. Das sind menschliche Grundbedürfnisse. Kinder wünschen sich das häufig spontan. Den Erwachsenen fällt das schon schwerer. Obwohl es auch ihnen gut tut, wahrgenommen und gesehen zu werden. Zu spüren, wie es dem anderen geht, was ihn beschäftigt. Wir nehmen Kontakt auf.

Für mich zählt eine Gottesbezeichnung zu den schönsten der Bibel. Sie hat mit dem Sehen zu tun: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Mit diesen Worten fasst Hagar ihre Erfahrungen mit Gott zusammen. Hagar ist die Magd von Sarah, der Frau Abrahams. Sarah kann keine Kinder bekommen und ist unglücklich. So fordert sie Abraham auf, an ihrer Stelle mit Hagar Kinder zu zeugen. Nach altorientalischem Brauch war das möglich, denn Sklaven wurden als Eigentum angesehen. Hagar wird schwanger. Sie fühlt sich Sarah überlegen, sie wird hochmütig. Sarah macht ihr daraufhin das Leben zur Hölle. Deshalb flieht Hagar in die Wüste. Hier ist man einsam. Man fühlt sich in der Wüste ausgeliefert. Hagar ist allein, schwanger und mittellos. So kommt sie bei einer Wasserquelle in der Wüste an. Dort begegnet ihr ein Engel Gottes. Der Engel sagt ihr viele Nachkommen zu. Und dann schickt er sie zurück zu Sarah und Abraham. Danach spricht Hagar aus, wie sie Gott erfahren hat: Du bist ein Gott, der mich sieht.

Hagar ist in den Augen Saras und Abrahams nur eine Sklavin ist, die benutzt wird, die übersehen wird. In den Gesprächen zwischen Sarah und Abraham fällt nicht einmal ihr Name. Aber Gott spricht sie mit ihrem Namen an: Hagar, Sarahs Magd, wo kommst du her und wo willst du hin? Sie wird gesehen. Angesehen. In ihrer Not wahrgenommen. Du bist ein Gott, der mich sieht. Wie kann ich mir das vorstellen? Oft fällt einem ja zuerst der Gott im Himmel ein. Einer der von ferne alles im Überblick hat. Aber aus diesem Abstand kann man keinen wirklich sehen oder Ihm ins Gesicht schauen.

Nein, am besten sehe ich einen anderen Menschen, wenn ich im wahrsten Sinne des Wortes sein Gegenüber bin. Was ich von Hagar lese, öffnet mir die Augen. Die Geschichte führt mich zu meinem eigenen Bedürfnis, wahrgenommen zu werden. Sie führt mich zu der Frage: Wo und bei wem finde ich offene Augen und Ohren? Und umgekehrt: Wem bin ich ein wirkliches Gegenüber? Was nehme ich wahr an den Menschen, die ich täglich sehe? – Und was übersehe ich? Manchmal braucht es jemanden, wie meinen Sohn, um wirklich hinzuschauen.

Der Religionsphilosoph Martin Buber schreibt einmal: Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Genau so ist es. Dieser Satz passt für mich zur Geschichte von Hagar. Wahrgenommen werden und gesehen werden. So ist es bei Hagar auch gewesen. Genau hingucken, sich dem Blick der anderen stellen. Wenn das passiert, dann spürt man: Ich bin gemeint.

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