Der Behindertenparkplatz

Der Behindertenparkplatz

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt

Wie so oft suche ich einen Parkplatz vor unserem Supermarkt. Auf dem Parkplatz vor dem Laden ist jeder kleine Freiraum mit Autos vollgestellt. Man parkt schon in Zweierreihen auf dem Bürgersteig. Nur ein einziger Platz ist frei, der mit dem blauen Schild: „Behindertenparkplatz“. Dieser leere Platz überrascht mich immer wieder. Wenn dort gelegentlich ein Auto steht, dann hat es eine besonderen Berechtigung, ihn zu nutzen. Der Respekt vor diesem Schild ist erstaunlich, denn in Frankfurt verhalten sich sonst einige Verkehrsteilnehmer ziemlich hemmungslos. Rücksichtslos nutzen Fahrradfahrer die Bürgersteige. Rechtsabbieger schneiden an großen Kreuzungen den Fußgängern bei Grün den Weg ab. Schwere Autos parken auf den Gehwegen. Doch der Behindertenparkplatz bleibt leer. Wie durch einen magischen Zirkel wird hier ein Raum abgeteilt, eine Grenze  gezogen.

Warum bleibt dieser Platz fast immer frei? Ich vermute als erstes: Aus Angst vor den Folgen! Niemand möchte sein Auto von einem entfernten Stellplatz abholen und noch dazu eine hohe Abschleppprämie zahlen. Viele Anordnungen und Gesetze werden ja deshalb eingehalten, weil man die Konsequenzen fürchtet: Geldstrafen, Haft und Eintrag ins Strafregister.

Meine zweite Vermutung: Der Behinderten-Parkplatz bleibt frei aus Sorge vor dem Urteil der anderen. Wer traut sich denn, vor den kritischen Augen der anderen Parkplatzsucher in einen Parkplatz einzuschwenken, der für Menschen mit besonderen körperlichen Einschränkungen bestimmt ist. Niemand  möchte gerne als rücksichtslos und egoistisch bezeichnet werden.

Mein dritte Gedanke ist mir der liebste: Weil die meisten Menschen eine Verantwortung gegenüber Schwächeren empfinden. Für Kinder, sozial benachteiligte Leute oder Migranten. Weil sich doch die meisten  tief in sich bewusst sind, dass sie selbst in bestimmten Momenten Hilfe von anderen brauchen oder früher schon erhalten haben. Diese Einsicht prägt auch die Gebote der Bibel: „Beutet den Fremden nicht aus, der bei euch lebt. Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist; denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen“ heißt es im Buch Exodus. Dieser Satz ist Teil einer langen Liste von Regeln für das Zusammenleben von Menschen. Sie sind „Gebote“ – keine „Verbote“. Gebote, die gebraucht werden, damit Schutzräume für Schwächere offene gehalten werden. Das blaue Schild „Behindertenparkplatz“ über dem leeren Parkplatz  - es markiert einen solchen Schutzraum. Einen von vielen, die wir damals wie heute dringend brauchen.

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