Ich als Uta

Ich als Uta

Ein Beitrag von Gisela Brackert, Journalistin und Autorin im Ruhestand, evangelisch, Frankfurt

Fasching, Fastnacht, Karneval – jene närrische Zeit also, die heute und morgen ihrem Höhepunkt zutreibt - , in der westfälischen Provinz, in der ich aufwuchs, war davon nicht viel zu spüren. Und bei uns Protestanten sowieso nicht. Nur einmal, ich war damals 11 Jahre alt, hat mich die Einladung zu einem privaten Kinderkostümfest erreicht, und ich erinnere mich gut an die Ratlosigkeit, die in der ganzen Familie um sich griff. Denn wie sollte ich gehen? Als wer oder was?

Meine Mutter suchte nach Anregung nicht unter den klassischen Fastnachtskostümen – es gab wohl auch gar keinen Kostümverleih so kurz nach dem Krieg in der kleinen Stadt. Sie blätterte stattdessen in den „Blauen Büchern“, populären kunstgeschichtlichen Bildbänden, die reichlich im Bücherschrank meiner Eltern herumstanden. Und so kam es, dass ich weder Clown noch Schornsteinfeger wurde. Auch nicht Rotkäppchen oder Hexe. Nicht Harlekin und nicht Funkenmariechen. Ich trat der Welt - als Uta von Naumburg gegenüber.

Meine Krone: Pappe, die mit Goldbronze getränkt war. Mein Gewand: ein langes Nachthemd. Mein Überwurf: Mutters roter Mantel, mit dem ich nun jene Haltung einübte, die für die mittelalterliche Skulptur der Uta von Naumburg so charakteristisch ist: der halb das Gesicht verdeckende, hochgeschlagene Mantelkragen, den sie von innen mit der rechten Hand hält. Großmutters Seidenschal wurde zum „Gebände“ umfunktioniert, das Utas schönes Gesicht rahmt und das Haar zurückhält. Ich fand zwar, das sähe aus, als hätte ich Ziegenpeter, aber das Gebände gehörte nun mal zu meiner mittelalterlichen Erscheinung, die durch eine prächtige Brosche vervollständigt wurde.

Ich als Uta: das war ein Kostüm, das hohe Ansprüche stellte. An meine Haltung. Und an meine Erklärungskunst. Was sollte ich sagen, wenn man mich fragte: Wer bist denn Du? „Ich bin Uta von Naumburg. Ich gehöre zum Stifterkreis des Naumburger Doms und bin dort als eine der berühmtesten Skulpturen des Mittelalters verewigt.“ Die Cowboys. die Rotkäppchen, die Schornsteinfeger und Funkenmariechen, sie alle hatten es viel leichter als ich. Die mussten nichts erklären. Amüsiert habe ich mich jedenfalls als Uta von Naumburg nicht. Vornehm ist anstrengend.

Aber ein nachhaltiges Bildungserlebnis war dieser erste und einzige Kinderfasching vor mehr als 50 Jahren doch. Es war nämlich, rückblickend betrachtet, meine erste Berührung mit der klassischen Kunstgeschichte – und insofern wurde damals eine Spur gelegt, die später mein ganzes Leben durchziehen und zur ersten Grundlage auch meines beruflichen Weges werden sollte. Da fiel ein Samenkorn in fruchtbaren Boden und wer ins eigene oder auch in fremde Leben blickt, wird feststellen, dass das ganz oft so ist. Eine zufällige Begegnung, ein beiläufig gewecktes Interesse - und am Ende werden Lebensentscheidungen daraus.

Fasching, dieses scheinbar zügellose Fest der Begegnung im Schutz der Maskerade, ist solchen Entwicklungen übrigens durchaus günstig. Schon mancher Spiderman, der heute mit einem blonden Engel durch die Säle walzt, schließt damit, ohne dass er`s schon weiß und ahnt, einen Bund fürs Leben. Mit dem Glauben kann es ähnlich gehen. Die Kirchen streuen Samenkörner aus. Ob sie aufgehen, hat mit den Kirchen nicht mehr viel zu tun. Wir sind der Acker. Dort muss der Samen Wurzeln schlagen. Der Himmel weiß wie.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren