Gott sieht alles, aber er verpfeift uns nicht

Gott sieht alles, aber er verpfeift uns nicht

Ein Beitrag von Janine Knoop-Bauer, Evangelische Pfarrerin, Darmstadt

Gott ist überall. Gott sieht alles. So könnte man die Botschaft des einhundertneununddreißigsten Psalms zusammenfassen. Im Konfirmandenunterricht habe ich ihn zum ersten Mal gelesen. Ein altes hebräisches Gebet: Herr, du erforschest und kennst mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt Du es. So beginnt es.

Mit dem Gebet dankt ein Mensch Gott dafür, dass er immer um ihn ist und ihn überall hin begleitet. Für viele Menschen spricht aus diesen Worten großes Gottvertrauen.  Wenn sie an Gottes ständige Gegenwart denken, dann fühlen sie sich behütet und geborgen.

Als 14-Jährige konnte ich daran nichts Gutes finden. Gott sollte immer um mich sein? Die Vorstellung fand ich einfach unerträglich. Was bitte sollte an einer solchen Dauerüberwachung gut sein? Für mich klang das eher so, als ob Gott uns Menschen ausspioniert und kontrolliert. Als ob nichts vor ihm sicher ist. Es kein Entrinnen gäbe. Das hat meiner großen Sehnsucht nach Freiraum völlig widersprochen.

Aber der Beter des Psalms schien sich sicher – es gibt keinen Ort ohne Gott. Er betet weiter: Und nähme ich Flügel der Morgenröte und flöge ans äußerste Meer, so würde auch dort deine Hand mich halten. Egal wohin ich auch fliehe, egal wie weit ich laufe, Gott ist immer um mich. Als ich wieder einmal mit diesem Text haderte, erzählte ich einem Freund davon, wie blöd ich das fand: Gottes ständige Gegenwart. Er erzählte mir eine Geschichte:

Einem Pfarrer werden im Herbst immer wieder die schönen reifen Äpfel aus dem Pfarrgarten gestohlen. Das ärgert ihn. Er legt sich auf die Lauer, um die Diebe auf frischer Tat zu ertappen, doch ohne Erfolg. So schreibt er einen Zettel und hängt ihn an den Baum: Darauf steht: Gott sieht alles! Am nächsten Morgen schaut er nach seinen Äpfeln und muss feststellen: Der Baum ist nun völlig geplündert. Und als er auf den Zettel schaut, den er geschrieben hatte: Gott sieht alles, da hat jemand seinen Satz ergänzt: Gott sieht alles -  aber er verpfeift uns nicht!

Was mir der Freund damals mit der Geschichte gesagt hat: Gott sieht alles, aber er verpfeift uns nicht. Er ist nämlich auf unserer Seite. Er schaut nicht als Oberpolizist oder Spion in mein Leben. Was er sieht, verwendet er niemals gegen mich. Ich muss mich unter seinem Blick nicht wegducken und nicht erschrecken. Denn dieser Blick lässt mir auch Freiraum, weil es eben nicht darum geht,  Material gegen mich zu sammeln und mich zu kontrollieren. Ich habe das über viele Jahre dann ausprobiert und  erfahren: Wenn ich Gott als Freund verstehe, der meinen Weg begleitet, dann kann mich der Gedanke an seine Gegenwart  tatsächlich trösten.

Gott ist überall. Gott sieht alles, aber er verpfeift mich nicht. Diesen Satz habe ich in meiner Bibel über den einhundertneununddreißigsten Psalm geschrieben. Seitdem lese ich ihn gerne und denke: Mit diesem Gott kann ich über Mauern springen. Und wenn dahinter ein Pfarrgarten ist, auch mal einen Apfel pflücken.

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