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Große Momente im Leben
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Große Momente im Leben

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer, Kassel

Der Mann hat Mut. Mut zum Durcheinander. Er ist Kind schwerreicher Eltern, verschenkt aber sein Vermögen an arme Künstler und Freunde. Er will etwas werden und weiß nicht was. Also probiert er aus: Musiker, Dirigent, Architekt, Gärtner, Dorfschullehrer. Alles macht er, nichts tut ihm gut. Der Österreicher Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) ist unzufrieden mit sich und der Welt. Viel zu viel Durcheinander, und er mitten drin. Die letzte Rettung: Philosophie. Und Rückzug in eine Hütte in Norwegen. So geht das Leben dahin. Mal Universität in England, mal armselige Hütte in Norwegen. Dazwischen ein philosophisches Buch, das nur sagt, was auch gesagt werden kann. Keine Schönrederei, kein falscher Glaube oder verwunschene Träume. Nüchtern setzt Wittgenstein dem Durcheinander in der Welt ein Denkmal und schreibt den großartigen Satz: Die Welt zerfällt in Tatsachen.

So ist es. Die Welt ist kein rundes Ganzes, das angenehm leuchtet und irgendwann Sinn ergibt. Die Welt zerfällt in Tatsachen. Das Durcheinander, das Ludwig Wittgenstein oder Sie oder ich manchmal empfinden, ist auch eins. Viele Tatsachen verwirren Herz und Seele. Der Philosoph in der Berghütte Norwegens ist glücklich, als er das endlich erkennt und niederschreibt. Die Welt zerfällt in Tatsachen. Da ist kein großes Ganzes, das ich nur entdecken muss. Da ist heilloses Durcheinander, das sich oft bis in meine Seele schleicht und mich betrübt, auch heftig betrübt. Die Welt ergibt keinen Sinn. Wer das Durcheinander ein wenig ordnen will, braucht noch etwas.

Der Philosoph Wittgenstein, der sein Vermögen verschenkt hat und meist nur von Käse, Brot und Milch lebt, weiß auch, was ihm hilft. Es ist nur schwer in Worte zu fassen. Nicht alles, was ist, kann man auch sagen. Wer leben will und Durcheinander spürt, wer stolpert und mit verwirrenden Tatsachen zurechtkommen muss, braucht ein Geländer. Etwas zum Festhalten, zum Aufrecht gehen können. Wenn etwas schwierig wird oder mich betrübt, muss die Seele sich an etwas aufrichten können. Manchmal sagt Wittgenstein „Gott“ dazu, öfter lässt er das Wort weg und sagt Hoffnung. Es sind große Momente im Leben, wenn ein Mensch hofft. Wenn er Tatsachen hinter sich lässt und auf mehr hofft, auf Größeres als die Verwirrung. Es sind große Momente, wenn der Philosoph Wittgenstein fühlt und weiß, dass hinter der verwirrenden Welt ein Wille ist. Welt und ich trudeln nicht sinnlos im Weltall herum. Wir sind gewollt. Und werden das auch verstehen – heute, morgen oder irgendwann. Wenn ich weiß, dass ich gewollt bin, suche ich nach dem Warum. Und finde die Antwort. Am besten, wenn ich fühle und erkenne: Ich werde gebraucht. Auch heute. Jemand wartet auf mich, auf meine Hand, mein Herz. Liebe ist, was dem Sinn vorausgeht.

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