Das Leben ist eine Baustelle
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Das Leben ist eine Baustelle

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Das Leben ist eine Baustelle. Genau genommen besteht es sogar aus mehreren Baustellen. Wie bei meinem Freund Jan. Er ist gerade umgezogen, und die Kisten stehen unausgepackt herum. Die Baustellen des Lebens gibt es aber auch anderswo: Menschen orientieren sich im Beruf um oder bei Partnerschaften, es gibt Brüche in Beziehungen und Hobbys, die man zur Seite legt oder neu anfängt. Immer wenn ich denke, die eine Baustelle ist abgeschlossen, dann sehe ich gleich eine neue.

Das neue Jahr ist für viele Anlass, alte und neue Baustellen in den Blick zu nehmen. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, in der ich Führerschein und Abitur gemacht habe. Damals dachte ich: „Wenn ich das geschafft habe, dann bin ich erwachsen.“ Zwar konnte ich tatsächlich das Eine oder Andere fertig stellen und hinter mir lassen. Aber es kamen immer wieder neue Baustellen.

Manchmal leide ich darunter und sehne mich nach Vollendung und Vollkommenheit. So muss es wohl den Menschen gegangen sein, von denen die Bibel erzählt. Am Ende der Weihnachtsgeschichte geht es um die Weisen aus dem Morgenland. Sie machen sich auf den Weg und verleihen ihrer Sehnsucht Füße. Später hat die Tradition sie zu den heiligen drei Königen gemacht. Drei, weil sie drei Geschenke mitnehmen: Gold, Weihrauch und Myrrhe.

Viel haben die drei Könige nicht in der Hand, als sie sich auf den Weg machen. Da ist nur dieser Stern, der ab und zu in Dunkelheit und Nebel aufleuchtet. Sie wissen nicht genau, ob sie das finden, was sie suchen. Sie wissen nicht einmal genau, was sie suchen. Sie suchen jemand, der ihr Leben irgendwie heil macht. Sicher dachten sie dabei an einen großen Herrscher und König. Mit Krone und Zepter. Mit Purpurgewand und Königsthron.

Die Weisen finden statt eines prächtigen Königs einen schreienden Säugling in einem Schuppen. Ein Kind. Der ersehnte Retter liegt noch in den Windeln. Nicht mal sprechen kann er. Vielleicht erkennen die Weisen jetzt: Unvollkommenes und Unfertiges gehören zum Leben. Es bringt in Bewegung. Ja, es kann sogar das Ziel sein.

Der große Retter ist ein Kind. Das stößt so manche Prinzipien meiner Lebensordnung um. Nicht immer schon fertige Antworten haben, sondern fragen können. Nicht leisten und vorweisen müssen, sondern sich entwickeln können. Gott lässt sich auf das Unfertige ein. Das tröstet mich und hilft mir, Unvollkommenes und Unvollendetes in meinem Leben auszuhalten und zu schätzen.

Vielleicht können die Weisen nach ihrem Ausflug nach Bethlehem manches mit neuen Augen sehen. Vielleicht können sie jetzt mit den Baustellen in ihrem Leben gelassener umgehen. Und wir mit ihnen.

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