Was einen im Herzen bewegt

Was einen im Herzen bewegt

Dr. Dr. h.c. Volker Jung
Ein Beitrag von Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt

„Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“

Der Satz klingt vielen vertraut in den Ohren. Sie erkennen ihn auch dann wieder, wenn er – so wie jetzt – aus dem Zusammenhang gerissen wurde. Er hat seinen Platz in der biblischen Weihnachtsgeschichte. „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“ Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn was sie da gerade gehört hat, ist schon etwas ganz Besonderes. Es sind Engelsworte gegen die Angst: Fürchte dich nicht! Und: Friede sei mit dir! Solche Engelsworte gegen die Angst und für den Frieden haben Menschen bewegt, seit sie sich vor etwas fürchten müssen. Und sie werden Menschen so lange bewegen, wie sie sich nach Frieden sehnen.

Manchmal treffen einen Worte, die zu Herzen gehen. Worte, die Macht entfalten. Sie können vom Lehrer stammen, der einem Schüler vor der Prüfung sagt: „Du kannst das!“ Drei Worte im richtigen Augenblick – sie erreichen das Herz und lindern die Angst. Aber auch das böse Wort kann Macht entfalten. Etwa wenn ein Mitschüler sagt: „Das schaffst du nie.“ Vier Worte, die das ohnehin schon ängstliche Herz blockieren. Worte können zu Herzen gehen, wenn sie in einen besonderen Augenblick hineinsprechen. Einen solchen Augenblick erlebt Maria, als sie das Engelswort hört: „Fürchte dich nicht!“

Musik: Georg Philipp Telemann, Sinfonia aus „Saget den verzagten Herzen“, Magdeburger Kammerchor und das Telemann Kammerorchester Michaelstein unter Ludger Rémy

Warum passiert das? Warum treffen Worte manchmal so direkt und tief ins Herz? Bei Maria ist das ganz klar: Sie hat allen Grund sich zu fürchten, denn sie ist in einer Ausnahmesituation: Gerade hat sie ein Kind geboren, und zwar unter schwierigsten Verhältnissen. Sie ist nicht zuhause, wo sie sich auskennt. Und wo sie Hilfe hat. Sie ist nicht einmal in einem Hotel und schon gar nicht in einem Krankenhaus. Ein Krankenhaus gab es damals, vor 2000 Jahren in Bethlehem, noch nicht. Und in den Herbergen der Stadt ist kein Platz mehr frei. So ist sie in einem Stall untergekommen. Nur Josef ist bei ihr, der vom Kinderkriegen sicher noch keine Ahnung hatte, denn es ist ihr erstes Kind. Und der sicherlich auch kein besonders geschickter Helfer beim Gebären war, denn das war damals noch viel mehr als heute Frauensache. Aber Maria hat es geschafft. Mutter und Kind sind wohlauf. Der Vater offenbar auch.

Diese Szene ist vielen vertraut. Durch Krippenfiguren in Wohnstuben und auf Weihnachtsmärkten. Auch durch Gemälde aus aller Zeit. Sie zeigen Maria und Josef, vor ihnen das Jesuskind in der Krippe, dahinter Ochs und Esel, alle zusammen in einem Stall. Dazu kommen von der Seite die Hirten mit ihren Schafen. Drumherum eine schöne Landschaft mit Bergen, Wäldern und Städten.

Auf den Gemälden wirkt alles wohlgeordnet – ein Idyll. Zu sehen ist Maria in prächtigen Gewändern. Abgeklärt und gefasst sitzt sie an der Krippe, scheinbar in Gedanken vertieft, wenn nicht gar versunken in heiliger Andacht. Sie zeigt keine Spur von den Strapazen einer Geburt.

Das kann so nicht sein. Das weiß jede Frau, die ein Kind geboren hat: die Stunden danach fühlen sich ganz anders an. Und das weiß auch jeder Mann, der schon einmal bei einer Geburt dabei war oder direkt nach der Geburt dazu kam. Die junge Mutter ist körperlich erschöpft und emotional im Ausnahmezustand. Freude über das Kind, Sorge und Furcht über all die möglichen Gefahren gehen wild durcheinander. Achtung: Jeder Satz, der jetzt gesprochen wird, trifft ins Herz und bleibt dort.

Das gilt für Maria noch viel mehr. Und für Josef auch. Sie erleben die Geburt ihres Kindes nicht in einer wohlgeordneten Idylle: Sie sind fern von zuhause, in einem schmuddeligen Stall, ganz auf sich allein gestellt mit ihrem ersten Kind. Sie haben Gründe genug, sich zu fürchten.

Musik: Antonio Vivaldi, Konzert für Violine, Streicher und Basso Continuo, Concerto Köln

Maria, die junge Mutter, ist in einer Ausnahmesituation. Nicht nur, weil der Stall in der Fremde kein guter Ort ist für eine Geburt. In einer Ausnahmesituation ist sie auch, weil sie von dieser Geburt sicher etwas ganz anderes erwartet hatte. War doch Monate zuvor ein Engel zu ihr gekommen. Ein Engel! – zu ihr, dem jungen und unbedeutenden Mädchen im Provinzort Nazareth! Und dieser Engel hatte ihr verkündet:

„Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären und du sollst ihm den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Und Gott, der Herr, wird ihm den ihm den Thron seines Vaters David geben und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit und sein Reich wird kein Ende haben.“

Das hatte Maria zuerst gar nicht glauben können. Wie sollte sie auch – so ungeheuerlich wie das war! Aber der Engel hatte sie überzeugt. Seitdem hatte sie gewusst: Mit ihr und in ihr war etwas Besonderes im Gange. Was mag Maria für die Geburt erwartet haben? Sicher etwas Großes. Zum Beispiel etwas mit dem Tempel in Jerusalem, ein imposantes Gebäude, das musste in ihrer Vorstellung der richtige Ort für Gottes Sohn gewesen sein. Aber nun war es der schäbige Stall in Bethlehem geworden. Und das auf Befehl des römischen Kaisers Augustus. Der hatte die Macht. Er hatte alle gezwungen, zu einer Volkszählung in ihre Heimatstadt zu gehen - auch die hochschwangere Maria. Die künftige Mutter des Gottessohnes musste sich auf den überfüllten Straßen herumschubsen lassen. Und ihr Kind, der Sohn des Höchsten, wurde da geboren, wo Ochs und Esel zuhause sind. Wie konnte das zusammen passen, der staubige Stall jetzt und die strahlenden Engelsworte davor? Maria war bestimmt verwirrt und verunsichert – auf der Suche nach Worten, die das alles erklären konnten.

Musik: Christoph Bernhard, Fürchtet euch nicht, Hans Jörg Mammel (Tenor) mit dem L’Arpa Festante

„Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen und die Klarheit des Herrn leuchtete im sie und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht, denn siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“

Engelsworte gegen die Angst - darüber waren die Hirten sicherlich genauso erstaunt, wie es Monate zuvor Maria gewesen war. Engel! – zu ihnen, den unbedeutenden Männern draußen auf dem Feld! Sie hatten sicher Mühe, das alles zu fassen. Aber der Engel hatte sie überzeugt. Sie tun das einzig Richtige. Sie gehen der Sache nach. Das heißt: Sie gehen hin. Eilend kommen sie herbei, wie es in der Bibel heißt. Was werden sie erwartet haben? Wo und wie könnte für sie Christus, der Sohn Gottes, geboren worden sein? Es müsste etwas ganz Besonderes sein. So ist es auch, aber ganz anders, als sie es vermutlich erwartet haben. Denn was sie in Bethlehem vorfinden, ist nicht die große Szenerie, kein Palast und auch nicht der große Tempel. Es ist ein kleiner Stall. Aber das irritiert sie offenbar gar nicht. Im Gegenteil: Sie sind ergriffen von dem, was sie vorfinden. Ergriffen vom Jesuskind samt Maria und Josef. Sie verstehen: Der Messias, Gottes Sohn, ist nicht dorthin gekommen, wo die große Macht sitzt, zum römischen Kaiser oder dem jüdischen König. Nein! Unser Heiland ist dorthin gekommen, wo wir Hirten leben. Er wurde da geboren, wo sonst unsere Tiere geboren werden. Der große Gott ist mitten unter uns kleinen Leuten!

Das erzählen die Hirten zuerst Maria. Und dann verbreiten sie es überall weiter. Wes Herz voll ist, dem geht der Mund über. Bei den Hirten stimmt das. Bei Maria nicht. Sie behält alle diese Worte und bewegt sie in ihrem Herzen. Es sind die Worte, die sie jetzt erst einmal braucht, um zu begreifen, was mit ihr geschehen ist. Und es sind die Worte, die auch die Menschheit braucht, um dieses Ereignis zu verstehen. Es verändert den Lauf der Welt, denn: Gott setzt sich damit selbst dem menschlichen Leben aus. In seinem Sohn Jesus Christus wird er ein kleines Kind. Doch wozu?

Musik: Georg Philipp Telemann, aus: “Auf Zion! Und lasst in geheiligten Hallen“ und „Ehre sei Gott in der Höhe“, Magdeburger Kammerchor und das Telemann Kammerorchester Michaelstein unter Ludger Rémy

„Und hinter dem Engel tauchten himmlische Heerscharen auf und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

So sprechen, so singen die Engel für die Hirten auf dem Feld. Engelsworte für den Frieden. Die Hirten bringen sie zuerst zu Maria, dann tragen sie sie in die ganze Welt. Es sind schöne Worte, Sehnsuchtsworte.

Aber sie sind weit weg von der Wirklichkeit, zumindest an vielen Orten auf der Welt! Zuallererst dort, wo sie zuerst gesungen wurden: auf den Feldern rund um Bethlehem, heute Palästina, wo die Menschen verstrickt sind in einen zermürbenden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Hier kracht alles aufeinander, was auch an vielen anderen Orten auf der Welt den Unfrieden anheizt: Gebietsansprüche, Kulturen, Nationalitäten, Religionen und alte Rechnungen. Sie erzeugen eine Hassspirale aus Armut und Zerstörung, aus Demütigung und Rache, Tod und Trauer. So ist das derzeit auch in Syrien. So in manchen Ländern Afrikas. So an vielen Orten. Die Menschen dort sollen heute, an Weihnachten, nicht vergessen werden. Viele von ihnen feiern jetzt auch Weihnachten. Sie hören auf die Weihnachtsgeschichte mit ihren Engelsworten gegen die Angst: „Fürchtet euch nicht!“ Und sie hören die Engelsworte gegen den Krieg: „Friede auf Erden“. Sie sehnen sich besonders stark danach, dass diese Worte wahr werden.

Manchmal werden sie das. In den vergangenen Monaten haben sich viele mit dem ersten Weltkrieg beschäftigt. Er hatte vor 100 Jahren angefangen. Grund genug an dieses wahnsinnige Töten zu denken, heute mit dem Engelsgesang im Ohr: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“. Manchmal wird das wahr. Daran will ich heute auch erinnern. Heute vor genau 100 Jahren haben sich feindliche Soldaten den Engelsgesang zu Herzen genommen. Sie haben die Waffen liegen lassen und miteinander Weihnachten gefeiert. Geschehen ist dies an der sogenannten Westfront, wo deutsche und britische Soldaten gegeneinander kämpften. Sie ließen die Waffen liegen und feierten Weihnachten.

Eine großartige Situation. Aber auch eine gespenstische, wenn man sich überlegt, dass sie danach wieder zurückgekehrt sind in ihre Stellungen, zu ihren Waffen und zum furchtbaren Töten. Muss Weihnachten mit den Weihnachtstagen zu Ende sein? Kann nicht etwas bleiben von Weihnachten, auch über das Weihnachtsfest hinaus?

Musik: Johann Rosenmüller, Gloria in excelsis Deo, Concerto Palatino unter Conrad Junghänel

„Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“

Maria hört genau zu. Nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen. Dort legt sie alle Engelsworte hinein. Sie werden von jetzt an ihr Leben prägen. Das Leben der Frau, die Jesus Christus geboren hat. Für sie werden die Engelsworte zu den Worten ihres Lebens. Worte können eine große Wirkung entfalten.

Ein einfacher Satz kann ein ganzes Leben prägen. Wie, das hat mir ein Mann erzählt – nennen wir ihn hier Jochen. Der Satz veränderte das Leben von Jochen und seinem Bruder Jens. Gesagt hatte ihn ihr Vater vor langer Zeit, als die beiden Brüder Jochen und Jens noch Kinder waren. Da sagte der Vater zu Jochen diesen verhängnisvollen Satz: „Du wirst deinem Bruder nie das Wasser reichen können.“

Worte wie Schläge: „Du wirst deinem Bruder nie das Wasser reichen können.“ Diese Worte sind Jochen ins Herz gefahren und in die Knochen. Sie begleiteten ihn bei allem, was er tat. Was immer es war, es würde immer schlechter sein als das, was sein Bruder Jens tat. Diese Worte vergifteten auch das Verhältnis der beiden Brüder, ohne das Jens, der andere Bruder, sie überhaupt kannte. Er wusste nichts von ihnen. Deshalb rätselte er jahrzehntelang: Warum ist mein Bruder mir gegenüber so abweisend? Bis die zwei Brüder miteinander ins Gespräch kamen. Dabei kam endlich auch dieser Satz zur Sprache. Und damit kam auch Bewegung in ihre Herzen. Endlich hatten sie die Chance, die alte Verletzung zu erkennen. Nichts konnte sie ungeschehen machen.

Doch sie konnten lernen, mit diesem Satz zu leben und ihm allmählich seine Macht zu nehmen. Ein kleines Stückchen Weihnachten – vielleicht. Man wünscht es ihnen - dass sie hören, was die Engel den Hirten gesungen haben: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Besonders Jochen wünscht man von Herzen, dass er merkt: Auch er ist gemeint, wenn Gottes Engel von den Menschen seines Wohlgefallens singen! Weihnachten muss nicht mit dem Weihnachtsfest zu Ende sein.

Sätze, die verletzen, gibt es viele. Vielleicht hat sogar jeder so einen, ins Herz gestoßen vom Vater oder von der Mutter, vom Bruder oder der Schwester, vom Lehrer oder der Pfarrerin, von der Freundin oder dem Chef. Oder von wem auch immer. Aber sie müssen nicht ewig wirken.

Musik: Arcangelo Corelli, aus: Concerto grosso, op. 6 Nr. 8, 3. Satz, Concerto Köln

„Fürchtet euch nicht, denn siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“ „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

Diese Engelsworte hat Maria in ihrem Herzen bewahrt und die Hirten haben sie in die Welt getragen. Jesus nahm sie auf und widmete ihnen sein Leben. Dafür gab er sogar sein Leben, dass sich niemand mehr fürchten muss, nicht vor dem Leben und nicht vor dem Sterben. „Fürchtet euch nicht.“

Und auch dafür lebte Jesus: Für den Frieden. Frieden unter Brüdern und Schwestern, Frieden in den Familien und in den Häusern. Frieden unter den Völkern und Nationen. „Friede auf Erden.“ Es sind diese Worte, die sich Maria zur Herzen nahm. Viele andere tun ihr das bis heute nach. Sie tragen diese Engelssätze im Herzen und lassen sich von ihnen bewegen. Sie stehen dafür ein, dass den Worten und Taten, die verletzen, die Macht genommen wird. Weihnachten ist das Fest dieser Engelsworte: „Fürchtet euch nicht.“ Und: „Friede auf Erden.“

Musik: Johann Sebastian Bach, aus dem Weihnachtsoratorium, The Monteverdi Choir und The English Baroque Soloists unter John Eliot Gardiner

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