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Wer den Kopf heben kann, kann den Himmel sehen

Wer den Kopf heben kann, kann den Himmel sehen

Ein Beitrag von Helwig Wegner-Nord, Evangelischer Pfarrer, Frankfurt

Und darum geht es im Advent: den Kopf zu heben, statt des mutlosen gesenkten Blicks die Augen wieder noch vorne, nach oben zu richten. Dass wir den Kopf heben können, im ganz wörtlichen Sinn, das ist eine so wertvolle Bewegung, eine wichtige Geste für Menschen. Denn wer den Kopf hebt, sieht den Himmel.

Und die anderen? Wer den Kopf nicht heben kann oder will? Den Kopf hängen lassen – das ist der äußere Ausdruck für ein inneres Gefühl, für Trauer, für Mutlosigkeit. Die Augen sind zu Boden gerichtet, das Kinn fast auf der Brust. So als wäre nichts mehr zu erwarten, wonach es sich lohnen würde, Ausschau zu halten.

Übrigens scheinen nicht nur Menschen in dieser Haltung geübt zu sein. Auch die Blumen in der Vase oder im Garten lassen mit einem Mal den Kopf hängen, wenn ihnen zum Beispiel Wasser fehlt. Wenn jemand den Kopf hängen lässt, sehe ich: da fehlt Kraft. Da fehlen Mut und Zuversicht. Es fehlen – wie bei den Blumen – lebenswichtige Grundlagen, um überhaupt weiter existieren zu können.

Diese Haltung ist manchmal auch ein stummer Ruf nach Hilfe. Ich verberge meine verzweifelte Stimmung nicht, sondern zeige meiner Umgebung, wie es um mich steht. Vielleicht tue ich jemandem leid? Vielleicht hilft mir sogar einer? Aber natürlich gibt es noch öfter das andere, dass ein Mensch ganz selbstvergessen und ungeachtet aller fremden Blicke den Kopf hängen lässt, die Schultern nach vorne geneigt, einfach kraftlos, freudlos, fertig.

In einem Ratgeberbuch, das helfen soll, mit den richtigen Signalen der Körpersprache die gewünschten Effekte zu erreichen, heißt es:

„Nehmen Sie den Kopf hoch! Ihr Körper spricht mit. Selbst Ihre Schultern senden Signalbotschaften: Sie können helfen, Vertrauenswürdigkeit zu vermitteln, oder sie können Sie angespannt und nervös wirken lassen. Tipp: Ziehen Sie Ihre Schultern zurück, heben Sie Ihren Kopf leicht nach oben, und Sie wirken nicht nur selbstsicher, sondern Sie werden auch gelassener….“

Es ist schon eigenartig, dass die Haltung des Kopfes offensichtlich nicht nur auf diejenigen wirkt, denen ich mich zeige. Sondern sich auch darauf auswirkt, wie es mir selber geht. „…Sie werden gelassener!“ So heißt das Versprechen, wenn wir den Kopf heben.

Musik: Giovanni Maria Trabaci, Canzona francesca cromatica, Flautando Köln

Vor drei Wochen ging ein merkwürdiges Bild um die Welt: vierhundert Australier hatten sich am Strand Bondi Beach jeweils ein Loch in den Sand gebuddelt und den eigenen Kopf hineingesteckt. Was das sein sollte? Sie wollten damit gegen ihren Premierminister Toni Abbott protestieren, Gastgeber des G20-Gipfels, weil der ihrer Meinung nach auch den Kopf in den Sand stecken würde. Das heißt: die Augen verschließen würde in Sachen Klimapolitik, statt hinzusehen und ein paar vernünftige Entscheidungen für die Zukunft voranzubringen.

Das ist sozusagen die Steigerung vom Kopf-hängen-lassen: den Kopf in den Sand zu stecken, die Augen zu verschließen und die Ohren gleich mit. Die Realität auszublenden, statt sich ihr zu stellen. Bei der Klimapolitik trifft das sicher viele von denjenigen, die politische Verantwortung tragen.

Aber auch sonst: Wir denken, dass es – zumindest für eine kleine Zeit – hilft, die Augen zu verschließen, das, was wir wissen oder auch nur ahnen, für uns zu behalten.

Und ist das nicht auch in Ordnung? Wir können doch nicht immer alle Probleme der Welt vor unseren Augen sehen und auf den Schultern haben! Zumindest ich persönlich habe mir angewöhnt, die Dinge nicht alle gleichzeitig beheben zu wollen. Eins nach dem anderen. Und wenn es zu drängend wird – ja, ich gebe es zu, dann verkrieche ich mich auch mal, stecke den Kopf in den Sand.

Den Kopf hängen lassen – der Reformator Martin Luther hat dieser Haltung nicht viel abgewinnen können. Schon vor 500 Jahren empfiehlt er, laut hinauszurufen, was einen im Innern belastet. Er setzt dem hängenden Kopf das laute Beten entgegen. In einem Text über den 118. Psalm schreibt er:

„Rufen musst du lernen und nicht dasitzen bei dir selbst oder liegen auf der Bank, den Kopf hängen und schütteln und mit deinen Gedanken dich beißen und fressen, sorgen und suchen, wie du sie loswerdest, und nicht anderes ansehen, als wie übel es dir gehe, wie weh es dir sei, welch ein elender Mensch du seiest. Sondern wohlauf, du fauler Schelm, auf die Kniee gefallen, die Hände und Augen gen Himmel gehoben und deine Not mit Weinen vor Gott dargelegt, geklagt und gerufen!

Beten, Not anzeigen, Hände aufheben sind Gott die allerangenehmsten Opfer. Er begehrt es, Er will es haben, dass du selbst Ihm deine Not vorlegen, nicht auf dir lassen liegen und dich selbst damit schleppen, nagen und martern sollst, damit du aus deinem Unglück zwei, ja, zehn und hundert machest.“

Auf die Knie gefallen, Hände und Augen gen Himmel gehoben und geklagt und gerufen! Luthers Ratschläge zielen nicht nur auf eine bessere Körpersprache. Es geht ihm mehr noch um die Sprache der Seele. Hände und Augen gen Himmel gehoben! Das schützt davor, dass sich das Unglück, das man erträgt, vervielfältigt und hundertmal so schwer auf einem liegt, wie es nötig wäre. Die Augen zum Himmel gehoben – statt alles in sich rein zu fressen und sich in Selbstmitleid zu quälen. Und wir dürfen Martin Luther abnehmen, dass er das oft genug selbst erlitten und erlebt und erprobt hat.

Musik: Johann Sebastian Bach, Ich ruf zu Dir Herr Jesu Christ, Lorenzo Ghielmi

„Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“

So berichtet der Evangelist Lukas von einer Rede Jesu. Es geht um das Ende der Zeiten. Eine kosmische Katastrophe läutet das Weltende ein. Die Kräfte des Himmels kommen in Bewegung. Und: der Menschensohn wird wiederkommen. Vorher aber wird die Gemeinde Jesu verfolgt werden und verhasst sein.

Und dann steht da dieser klare Satz: „Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“

Erhebt eure Häupter! Die Zeit des Traurig-Seins und der Quälerei ist vorbei. Schaut nach vorne, eure Erlösung naht! Als Lukas das in sein Evangelium schreibt, hat er wahrscheinlich erlebt, dass und wie die Menschen, die in Jesus ihren Herrn gesehen haben, den Kopf haben hängen lassen. Dass ganze christliche Gemeinden sozusagen den Kopf in den Sand gesteckt haben.

Und: Ist das ein Wunder? In den ersten Jahren nach Jesu Tod, als sich urchristliche Gemeinden bildeten, sahen sich die Christinnen und Christen immer stärker Verfolgungen ausgesetzt. Zunächst in Jerusalem, später im ganzen Mittelmeerraum wurde verhaftet, verurteilt, gesteinigt und geköpft. Anhänger der Christusgemeinde sind geflohen und haben sich verborgen, andere haben dem neuen Glauben wieder abgeschworen. Wahrscheinlich hatte Lukas auch von der brutalen Christenverfolgung im Jahr 64 in Rom gehört, bevor er sein Evangelium geschrieben hat. Der Römische Kaiser Nero hatte die Christen für einen Brand verantwortlich gemacht, der zehn von vierzehn Stadtbezirken Roms in Schutt und Asche gelegt hatte. Der Römische Historiker Tacitus schreibt später darüber:

„Nero verhängte die ausgesuchtesten Strafen über die wegen ihrer Verbrechen Verhassten, die das Volk ‚Chrestianer‘ nannte. Der Name leitet sich von Christus ab. Dieser war unter der Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden… Man verhaftete also zuerst Leute, die bekannten, dann auf ihre Anzeige hin eine riesige Menge. Sie wurden nicht gerade der Brandstiftung, wohl aber des allgemeinen Menschenhasses überführt. Die Todgeweihten benutzte man zum Schauspiel….“

„Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!“ Wenn ich mir vor Augen halte, wie das Leben der Jesusgemeinde im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt ausgesehen hat, wird mir klar: Erlösung ist mehr als nur ein Lichtblick, mehr als ein bisschen Erleichterung. Unter Erlösung haben sich die Menschen vorstellen dürfen, dass eben der Erlöser zu ihnen kommt, sie rausholt aus aller Verfolgung und freimacht für ein neues Leben. Darum also: „Erhebt eure Häupter!“

Musik: Felix Mendelssohn Bartholdy, Aus „Paulus“ „Wachet auf ruft uns die Stimme“, BBC National Orchestra of Wales unter Richard Hickox

„Erhebt eure Häupter!“ Das ist im besten Sinne ein Aufruf zum Advent. Denn der Advent ist ja in der Tat die Zeit, in der Menschen schon als Kinder lernen zu erwarten, dass da was Großes, Schönes, Neues passieren wird. Das ist keine schlechte Einübung in eine Grundfertigkeit, die Menschen ihr ganzes Leben lang brauchen. Denn Anlässe und Gründe, wirklich zu verzweifeln, gibt es genug.

Im persönlichen und privaten Leben. Wenn Krankheiten Leid und Sterben bringen. Wenn geplante Lebenswege mit einem Mal aus der Spur laufen. Wenn die Liebe zerbricht, die ein Leben lang halten sollte. Aber auch im Großen, im politischen Leben, gibt es Gründe zum Verzweifeln und den Kopf hängen zu lassen.

Erhebt eure Häupter – was bedeutet das für die zigtausend verfolgten Christinnen und Christen im Irak, die seit dem Sommer dieses Jahres auf der Flucht vor dem IS-Terror sind? Gilt das auch für sie: Seht auf, weil sich eure Erlösung naht!? Sie fliehen vor drohender Gewalt und brutaler Verfolgung. Den Tod hat man ihnen angedroht, wenn sie ihrem Glauben nicht abschwören. Die Sätze aus dem Lukasevangelium bekommen mit einem Mal einen ernsthaften neuen Klang. Da wird doch genau das beschrieben, was die verfolgte und vertriebene Christengemeinde im Nordosten des Irak erlebt: „Die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen.“

Wie hatte Martin Luther gesagt? Gegen die Verzweiflung hilft das laute Beten. Und wahrscheinlich nicht nur das Beten derer, die „vergehen vor Furcht“ – sondern ebenso das Beten der anderen, auch unser Beten. Denn wir sind ja bestens informiert und hören es täglich wieder, was da geschieht an furchtbaren Gräueln. Beten heißt, so Martin Luther „…die Hände und Augen gen Himmel gehoben und deine Not mit Weinen vor Gott dargelegt, geklagt und gerufen!“

Es sind nicht nur die Christen, die sich mit dieser Klage an Gott wenden. Es sind auch Muslime auf der ganzen Welt, die die Verfolgung der Christen und Jesiden und auch den Antisemitismus durch den islamistischen Terror vor Gott bringen. Mit gleich lautenden Friedensgebeten wurde in über zweitausend deutschen Moscheen vor wenigen Wochen ein Zeichen gegen Hass, Verfolgung und willkürlichen Terror gesetzt.

Und im Norden des Irak haben sich muslimische Geistliche der christlichen Forderung an die Vereinten Nationen angeschlossen, dort eine Sicherheitszone für Christen einzurichten. Alles das sind für mich Formen des Betens, des Kopfhebens.

Musik: Felix Mendelssohn Bartholdy, Aus „Paulus“ „Mache Dich auf, werde Licht“, BBC National Orcjhestra of Wales unter Richard Hickox

Advent 2014 – der Aufruf aus dem Lukasevangelium scheint mir sehr aktuell in unsere Zeit zu passen: Seht auf, erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. Es ist ein Aufruf an die bedrängten und wegen ihres Glaubens verfolgten Menschen auf der ganzen Erde, in Syrien, in Nordkorea, in Nigeria, im Irak.

Seht auf, erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht – das ist ein Zuruf, der Verzweifelte trösten kann, Menschen, die krank sind und schlaflos den nächsten Morgen herbeisehnen. Andere, die nicht wissen, woher sie das Geld fürs tägliche Leben nehmen sollen.

Seht auf, erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht – damit wird aber auch Gott selbst, der Erlöser, daran erinnert, was den Leidenden verheißen ist. Dass ihre Last nicht zu schwer werden darf, damit sie nicht unter ihren Sorgen zusammenbrechen.

Martin Luther hat erklärt, wie das für ihn aussieht: dass lautes Beten gegen die Verzweiflung hilft. Deswegen wundert es mich nicht, dass ein eindringliches Gebet, der einhundertdreißigste Psalm, zu seinen Lieblingsstücken aus der Hebräischen Bibel gehört:

„Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir. Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens! Ich harre des HERRN, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort. Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen; mehr als die Wächter auf den Morgen hoffe Israel auf den HERRN! Denn bei dem HERRN ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm…“

Aus der Tiefe rufe ich zu Dir. Aus der Tiefe erhebe ich meine Stimme, hebe ich meinen Kopf und schaue auf. Wer den Kopf heben kann, kann den Himmel sehen.

Musik: Johann Sebastian Bach, Wachet auf ruft uns die Stimme, Albrecht Mayer Trinity Baroque, The English Concert

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