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9. November 1989 - Erinnerungen und Hoffnungen nach 25 Jahren

9. November 1989 - Erinnerungen und Hoffnungen nach 25 Jahren

Ein Beitrag von Helga Trösken, evangelische Pfarrerin im Ruhestand, Frankfurt am Main

 

Zu den eindrücklichsten Übungen des koreanischen Kampfsportes Taekwondo gehört für mich, dass der Sportler oder die Sportlerin mit der bloßen Hand, mit der Handkante einen Stein mitten durch zerschlägt. Manche schaffen auch mehrere Steine auf einmal. Mich fasziniert, dass das überhaupt möglich ist! Wie lange muss man oder frau dafür trainieren? Wie viel Konzentration und Körperbeherrschung sind nötig! Wie viel Misserfolge, wie viel Schmerzen haben die Sportler und Sportlerinnen beim Üben ertragen?

Sie schlagen die Steine durch, als seien sie aus Papier, scheinbar mühelos und leicht. Ein Schrei, eine elegante Bewegung, und der Stein fliegt in Teilen auseinander. Wenn das doch immer so leicht wäre, wie es da aussieht! Kein Kampfsport half und auch kein Training, als am 13. August 1961 die Mauer in Berlin gebaut wurde, und als die innerdeutsche Grenze buchstäblich mit einem eisernen Vorhang dicht gemacht wurde. Da standen die Menschen vor dieser Mauer in ohnmächtiger Wut, fassungslos, voller Trauer. Über lange Jahre wurde es danach zum Traum: Der Wunsch, die Hoffnung, die Utopie, dass die Steine zerschlagen, dass Mauern und Stacheldraht überwunden würden und die Grenzen verschwinden könnten.

Als dieser Traum wahr wurde – das werde ich nie vergessen. Es war der 9. und 10. November 1989, die Nacht, der Tag, an denen die Grenzen mitten in Deutschland geöffnet wurden. Unzählige Menschen kletterten in Berlin auf die Mauer und tanzten darauf. Tausende brachen von Ost nach West auf. Wieder andere begannen, die Mauer abzutragen im wahrsten Sinn des Wortes: Sie hackten kleine oder große Brocken ab, Erinnerungsstücke, Steine als Symbole für Leid und Trennung. Es war kein Kampfsport mit hartem Training nötig, um die Steine durchzuschlagen. Ein Wunder war geschehen, ein Wunder, von dem nur noch wenige zu träumen gewagt hatten. Es war Wirklichkeit geworden, was der Psalmbeter Israels einst bekannt hatte: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“. Dafür läuteten die Glocken. Dafür gab es Dankgottesdienste in ganz Deutschland: „Lobe den Herrn, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“

Musik

Wer den 9. November 1989 mit erlebt hat, hat heute unterschiedliche Erinnerungen, je nachdem, wie nah oder fern die eigenen Verbindungen in die damalige DDR waren. Ich selber war an dem Abend des 9. November da, wo ich jeden 9. November bin: In der Frankfurter Synagoge bei der Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht 1938, jener Nacht, in der in Deutschland die Synagogen brannten, jüdische Einrichtungen und Geschäfte zerstört, Wohnungen geplündert und Menschen zu Tausenden verhaftet und gequält wurden. Bald darauf begann die massenhafte Ermordung von Millionen Menschen. In der Synagoge damals am 9. November 1989 hörten wir nichts vom Fall der Mauer. Da waren wir ganz bei den Erinnerungen an 1938. Wenig später rief mich dann ein Kollege an und sagte: „Mach schnell den Fernseher an. Die tanzen auf der Mauer!“ Am Tag danach klingelte es ganz früh am Morgen. Da standen die Kinder meiner Freunde aus Bitterfeld. Sie hatten sich noch in einen Zug aus Halle quetschen können und waren nun im Westen, einfach so – und überwältigt. „Wahnsinn“ war das wohl am meisten gebrauchte Wort in jenen Tagen.

Mit einer Delegation aus Frankfurt konnten wir uns drei Wochen später vom Wahnsinn selbst überzeugen, als wir zu einer lange vor dem Mauerfall geplanten Reise nach Leipzig fuhren. Wir wollten ausloten, welche Möglichkeiten der Städtepartnerschaft es zwischen Leipzig und Frankfurt nun gäbe. Wir nahmen teil am Friedensgebet in der Nikolaikirche und dem anschließenden Gang über den Leipziger „Ring“. Die Menschen riefen immer wieder: „Wir sind das Volk“. Doch plötzlich, vor der „Runden Ecke“, dem Gebäude der Stasi, kippte der Ruf, und es wurde skandiert: „Wir sind ein Volk“. Dann begannen einige, das Stasi – Gebäude zu stürmen. Wir, die Gäste aus dem Westen, waren bewegt und auch voller Angst, wussten wir doch nicht, was daraus werden würde. Wahnsinn, ja, so erlebten wir diese Tage.

Etwas später, zurück in Frankfurt, wurde mir wieder ein Besuch angekündigt. Am Abend wollte er kommen, ein Kollege, mit dem ich viele Jahre in Verbindung war, mit dem ich mich fast immer getroffen hatte, wenn ich in der DDR war. Zu später Stunde saß er dann da und informierte mich, dass er Mitarbeiter der Stasi gewesen war und auch mich denunziert hatte.

Nein, er hätte nichts zu bereuen. Er hätte das Geld gebraucht, schon als Student, und er hätte nichts Nachteiliges über mich und andere berichtet. Ich konnte nicht anders, ich habe ihn rausgeworfen. Und ich konnte kaum schlafen in jener Nacht. Immer wieder ging mir durch den Kopf, ob vielleicht auch andere aus meinem großen Freundeskreis in Dresden, in Erfurt, in Bitterfeld und an anderen Orten solche Geständnisse würden machen müssen. Gott sei Dank war das nicht so!

Voll Dankbarkeit habe ich erlebt, dass Freundschaften Bestand hatten, dass im großen Kreis meiner Bekannten, Freunde und Freundinnen niemand der Versuchung erlegen war, der Stasi zuzuarbeiten. Es waren viel mehr Menschen, die nicht denunziert hatten, die sich keine Vorteile verschafften – im Westen und im Osten – schienen die Angebote der Stasi auch noch so verlockend. Die große Zahl der „Anständigen“ geht manchmal unter, wenn über das unmenschliche System der Stasi geklagt wird.

Für mich ist es dennoch immer wieder ein Wunder, wenn ich erfahre, wie viele Menschen tatsächlich widerstanden und Nachteile in Kauf genommen haben. Oft scheint es mir auch wie eine glückliche Fügung – oder, wie es damals immer wieder hieß: „Wahnsinn!“ Der 9. November 1989 hatte eine kirchliche Vorgeschichte. Davon werde ich nach der Musik sprechen.

Musik

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 denke ich zurück, wie der kirchliche Weg war in jenem wichtigen Jahr. Es begann im April 1989. Da trafen sich in Dresden Christen und Christinnen zu einer ökumenischen Versammlung. Ihr Thema lautete: „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“. Die Tagungsunterlagen habe ich mir aufgehoben, ich schaue mir das Logo an. Es zeigt die verschiedenen ökumenischen Symbole innerhalb einer Weltkugel: das Schiff, die Arche, eine Friedenstaube und einen Olivenzweig, der eine Kette durchtrennt.

Das Schiff und die Arche sind Symbole für die verschiedenen Kirchen. Der Olivenzweig ist ein altes biblisches Symbol der Hoffnung wie auch die Taube. Eine Taube hatte einst dem Noah in der Arche einen Olivenzweig gebracht als Zeichen der Rettung. Auf dem Logo durchtrennt der Zweig eine Kette. Das ist eigentlich unmöglich, dass ein zarter Zweig im Schnabel einer Taube eine Kette durchtrennt. Aber genau das ist passiert! Diese zerstörte Kette wurde zum Symbol und zum Hoffnungszeichen. In Dresden bekamen viele Christen und Christinnen neuen Mut, ihre Ketten zu durchbrechen. Nicht mit Waffen, sondern gleichsam mit Olivenzweigen.

Eine Gruppe in Ostberlin deckte wenig später Lügen und Betrug bei der Kommunalwahl auf. Die Gruppe schrieb an staatliche Stellen und forderte die Korrektur der Wahlergebnisse. Als sie keine Antwort erhielt, wurde eine Mahnwache geplant. Die Stasi ging mit äußerster Brutalität vor und verhaftete alle Beteiligten. Am 2. Oktober 1989 wurde in der Gethsemanekirche in Berlin so eine Mahnwache organisiert. Über dem Kircheneingang hing ein Stofftransparent mit der Aufschrift: „Wachet und betet. Mahnwache für die zu Unrecht Inhaftierten“.

Eine Woche später, am 9. Oktober, kesselten Polizeikräfte die Gethsemanekirche ein. Als die Teilnehmenden des Gebetsgottesdienstes die Kirche verlassen wollten, wurden mehr als fünfhundert von ihnen verhaftet. Sie schrieben in Gedächtnisprotokollen nach ihrer Entlassung davon, wie sie stundenlang misshandelt worden waren. In Leipzig standen zur selben Zeit bewaffnete Kampftruppen um die Thomas- und die Nikolaikirche bereit zum Einsatz. Allerdings wurde kein Befehl dazu gegeben und somit ein Blutvergießen verhindert. Bis heute unerklärlich, ein Wunder. Etwa 70.000 Menschen haben sich dann mit einem friedlichen Demonstrationszug über den Leipziger Ring bewegt. Immer mehr Menschen versammelten sich zu den Friedensgebeten am Montag, in der Zionskirche und der Gethsemanekirche in Berlin, in der Nikolaikirche in Leipzig, im Dom zu Magdeburg und an vielen anderen Orten. Brennende Kerzen und das gesungene Dona nobis pacem, „Gib uns deinen Frieden“, waren die Antwort auf Schlagstöcke und Hundestaffeln. Und der wichtigste Satz: „Keine Gewalt!“

So fing die Mauer an zu bröckeln. So wurden die Steine gewaltlos zerschlagen. Der ehemalige Volkskammerpräsident Sindermann sagte kurz vor seinem Tod: „Wir hatten alles geplant. Auf alles waren wir vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete“. Es waren übrigens nicht nur Christen und Christinnen, die an den Montagsgebeten teilnahmen. Atheisten und Atheistinnen erlebten zum ersten Mal ganz konkret, was Gebet heißt und was Beten mit dem täglichen Leben zu tun haben kann. Auch von ihnen sind viele während des Friedensgebets zum Mikrofon gegangen, um ihre Wünsche, Bitten, Klagen und Hoffnungen auszusprechen, wenn nicht vor Gott, dann doch in der Gemeinschaft der Menschen in der Kirche, „weltliche Gebete“. Aus Magdeburg ist später besonders das Gebet eines Jungen zitiert worden. Er sagte ins Mikrofon im Dom: „Jetzt ist das eingetroffen, wovor ich mich immer gefürchtet habe. Mein Vater ist draußen bei den Kampfgruppen in der Gagarin-Schule mit einem Schlagstock verschanzt, und ich stehe hier im Dom und bete. Ich bitte Gott, dass nie wieder ein Vater seinem Sohn so gegenüber steht“.

Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, ist, dass sein Vater an diesem Abend die Annahme des Schlagstocks verweigerte und sich stattdessen alle Taschen voll Verbandszeug stopfte. Ein Wunder, Wahnsinn, Hoffnung.

Musik

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist das Gefühl des Wahnsinns, ist die Euphorie von damals längst vergangen. Über die positiven Gefühle haben sich die Erfahrungen geschoben, was dann geworden ist. „Blühende Landschaften“ wurden versprochen. Auf dem ehemaligen Todesstreifen ist ein Radwanderweg durch ganz Deutschland entstanden, und die Biotope daneben werden gepflegt. Aber auch das: Brauchbare Industrie und Infrastruktur im Osten wurden von westlichen Unternehmen übernommen und dann nicht selten zerschlagen. Weil deshalb so viele Menschen arbeitslos wurden und von Ost nach West umgezogen sind, sind ganze Landstriche entvölkert und verödet.

„Es wächst zusammen, was zusammen gehört“, hatte Willy Brandt prophezeit. Aber die Mühen des Alltags offenbarten eine neue Teilung. Wenig wurde heil, was zerrissen war. Schlimmer noch: Neue Mauern wuchsen vor allem in den Köpfen. „Ossi“ und „Wessi“ wurden zu Schimpfwörtern. Migranten und Migrantinnen müssen in manchen Orten Ostdeutschlands um ihr Leben fürchten. Neonazis können nahezu unbehelligt ihre Gedanken verbreiten.

In anderen Teilen der Welt sind Mauern stehen geblieben oder neu errichtet worden. In Korea zum Beispiel am 38. Breitengrad. Eine willkürliche Grenze, nach dem Bruderkrieg 1952 gezogen. Sie trennt Süd- und Nordkorea, unüberwindlich, undurchdringlich seit Jahrzehnten. Keine Post, keine Telefonverbindung, keine Kontakt – und Besuchsmöglichkeiten für die durch den Krieg auseinander gerissenen Familien. Ab und zu wird die Grenze geöffnet, einen winzigen Spalt. Zum Beispiel – als es den Kirchen erlaubt wurde, während einer Hungersnot eine Nudelfabrik zu bauen. Und als eine Sonderwirtschaftszone errichtet wurde, in der Menschen aus Nord und Süd arbeiten dürfen. Heute sind in Korea viele Augen sehnsüchtig nach

Deutschland gerichtet. Und viele Christen und Christinnen in Korea klammern sich fest an die Hoffnung aus dem Psalm: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“. Diese Glaubenserfahrung traut der Hoffnung und gibt die Hoffnung nicht auf, auch nicht in Korea. Denn Gott ist dabei, wenn Mauern angegriffen werden. Dieser Glaube wurde bestärkt am 9. November 1989. Dieser Glaube wird aber auch immer wieder auf harte Proben gestellt, wenn neue Mauern gebaut werden – wie zum Beispiel die Sperrmauer in Israel um palästinisches Land. Man wollte Selbstmordattentäter fernhalten. Die Mauer hat Land und Olivenbäume zerstört, lässt Verzweiflung in Hass umschlagen und verhindert Schritte zum Frieden, die so dringend nötig wären. Nach dem letzten Gaza-Krieg sind jetzt erneut alle Versuche gescheitert, diese Mauer etwas durchlässiger zu machen.

„Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“. Wir erzählen von den Erfahrungen mit unserem Gott, wie er uns geholfen hat diesseits und jenseits der Mauer, wie er uns ermutigt, wie er uns festhält, wenn wir zu resignieren drohen. Welches Training wir brauchen, um Steine durchschlagen und Mauern einreißen zu können, ganz ohne Gewalt. Vor 25 Jahren in Deutschland waren es Kerzen und Gebete. Wer das erlebt hat, hält auch künftig nichts mehr für unmöglich – allen heutigen Mauern zum Trotz!

Musik

Was bleibt 25 Jahre nach dem 9. November 1989 außer den vielen Erinnerungen? Woher nehme ich heute den Mut und die Hoffnung angesichts so vieler neuer Mauern, angesichts von Terror und Unfrieden, angesichts so vieler ungelöster Probleme in aller Welt? Ich glaube nicht, dass Gott damals direkt eingegriffen hat, dass er also Günter Schabowski beim Ablesen des Zettels und dem folgenden Stottern geholfen hat. Ich glaube nicht an einen Gott, der Menschen als Marionetten benutzt. Ich glaube aber, dass er Wunder möglich macht, dass er uns immer wieder Zeichen gibt für das, was uns versprochen ist:

„Gott wird bei den Menschen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen“. Deshalb: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“.

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