Erntedank
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Erntedank

Claudia Rudolff
Ein Beitrag von Claudia Rudolff, Rundfunkpfarrerin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel

Heute am Erntedankfest sind die Altäre in den Kirchen wunderschön geschmückt. Dort liegen frische Kartoffeln, knackige Äpfel, farbenfrohes Gemüse, Weizen und Gerste.

Erntedank spiegelt den Kreislauf des Lebens. Was im Frühjahr gesät wurde, konnte im Sommer wachsen und gedeihen. Im Herbst wurde es eingeholt und gelagert. Im Winter sichert es das Überleben. So war es früher – für jeden sichtbar: Waren die Speicher leer, wurde es eng auf dem Tisch.

Heute ist das nicht mehr für jeden sichtbar. Die Kühlregale der Supermärkte sind immer voll. Und die meisten Menschen haben mit Säen, Gedeihen lassen und Ernten nichts mehr zu tun. Sie sind keine Landwirte, Gärtnerinnen oder Fischer von Beruf. Nur wenige leben unmittelbar von und mit der Natur und haben dadurch ihr Auskommen.

Aber Erntedank ist nicht allein ein landwirtschaftliches Festereignis. Auch andere säen, lassen gedeihen und ernten – hoffentlich.

Wer seinen Lebensunterhalt in einem Büro verdient oder in einer Fabrik oder in einem Krankenhaus, säht zum Beispiel Kraft und Ideen, lässt etwas gedeihen und erntet hoffentlich seinen Lohn, Erfolg, Anerkennung, Lebenssinn.

In Gedanken wird heute also viel mehr auf die Altäre gelegt, als dort zu sehen ist: Die Geschäftsfrau dankt für einen guten Geschäftsabschluss. Der Schüler dankt für seine Noten. Die genesene Patientin dankt für die wiedergewonnene Gesundheit. Der Vater für seine Kinder.

Vieles von dem was wir säen und ernten, pflegen und schützen, ist unsichtbar und trotzdem wichtig für unsere Gesellschaft und jede und jeden von uns. Säen und ernten – dieser Rhythmus spielt in jedem Leben eine Rolle. Aber warum dafür danken?

Am Erntedankfest feiern wir nicht uns selbst. Wir danken Gott, dem Schöpfer, dass die Erde Früchte und Nahrung hervorbringt und wir alles zum Leben haben, was wir brauchen.

Danken und Denken gehören für mich sprachlich zusammen. Wer dankt, bedenkt, was ihm gelungen ist und zuteil wurde. Und er bedenkt: Das ist nicht selbstverständlich. Dass etwas gelingt, ist immer auch ein Segen, ein Geschenk Gottes. Denn ernten kann ich nur, wenn etwas gewachsen ist, wenn meine Saat aufgegangen ist. Ein Landwirt und eine Gärtnerin können sich noch so viel mühen, aber wenn eine Hitzeperiode kommt oder ein Unwetter, wird ihre Ernte zerstört oder zumindest verringert. Der Erfolg ihrer Arbeit steht nicht allein in ihrer Hand. Das gilt in gleicher Weise für all unsere Arbeit und unsere Bemühungen. Deshalb gehört für mich auch zum Erntedankfest die Erinnerung an und der Dank für all das , was wir geschafft haben, beispielsweise im Haushalt, im Büro, in der Erziehung oder bei der Pflege von Freundschaften, Überall kann ich säen, mich mühen, aber das etwas gelingt, das ich ernten kann, ist nicht selbstverständlich.

Besonders eindrücklich wird mir das bei der Erziehung meiner Kinder. Ich kann versuchen, ihnen zu helfen zu verantwortlichen Menschen heranzuwachsen. Ich kann sie lieben, sie bitten, ehrlich zu sein, auf andere Rücksicht zu nehmen, und bei Schwierigkeiten nicht gleich den Kopf in den Sand zu stecken. Aber ob meine Saat aufgeht, hängt nicht allein an meinem Einsatz. Ich muss mich auch zurück nehmen können, vertrauen, Ihnen und Gott. Ihn um seinen Segen bitten, denn Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand. Gott danke zu sagen, das drückt für mich am schönsten der folgende Liedvers aus:

„Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land,
doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand:
der tut mit leisem Wehen sich mild und heimlich auf
und träuft, wenn heim wir gehen, Wuchs und gedeihen drauf.
Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn,
drum dankt ihm dankt, drum dankt ihm dankt und hofft auf ihn“
(EG 508,1).

Durch unsere Arbeit in allen gesellschaftlichen Bereichen haben wir am Prozess des Wachsensund Erntens Teil. Und gleichzeitig bleiben wir empfangende Menschen. Gott sei Dank.

Für mich wird das besonders eindrücklich an vier alten Erntegeräten. Das erste ist die Sense. Vor gut 100 Jahren war in Deutschland alle Feldarbeit noch Handarbeit. Die ersten Mähdrescher gab es erst Anfang der 50ziger Jahre. Davor wurde die Sense regelmäßig bei der Ernte eingesetzt. Eine Sense besteht aus einem Stiel, dessen Länge der Körpergröße des Benutzers angepasst wird. Unten ist das Sensenblatt angebracht- eine scharfe Klinge aus geschmiedetem Stahl. Um die Sense besser führen zu können, hat der Stiel meist zwei Griffe. Es ist eine Kunst, die Sense so gleichmäßig und schwungvoll zu führen, dass sie das Gras oder das Getreide abtrennt.

Mit der Sense wurden die Halme geschnitten, die Felder gemäht. Heute werden Sensen nur noch bei zu hoch gewachsenem Gras verwendet. Die Sense erinnert mich daran: Es wird geschnitten, wo geerntet wird. Wo sich eben noch reife Ähren im Wind gewiegt haben, entstehen Stoppelfelder, kahle Flächen, die umgepflügt werden müssen. Platz für eine neue Saat.

Nicht nur Landwirte und Gärtner müssen immer wieder neu anfangen im Leben, wenn Ernte da sein soll. Das gilt für alle. Die Ernte ist Teil im großen Kommen und Gehen des Lebens.

Das erleben alle, die sich für etwas innerlich stark engagiert haben: eine Arbeitsstelle, ein Projekt, eine Idee, ein Amt- Und dann endet es plötzlich. Abgeschlossen, erledigt.

Das erfahren auch Eltern, deren Kinder erwachsen werden und das Haus verlassen. Jahrelang galt ihnen ihre Sorge. Nun gehen sie und auf die Eltern warten neue Aufgaben und Möglichkeiten.

Es gilt in endgültiger und damit furchtbar schmerzhafter Weise auch für diejenigen, die einen lieben Menschen verloren haben. Wo sich eben noch das Leben wiegte, bleibt nur noch ein kahler Acker zurück. Für immer? Mag es immer ersten Moment so scheinen. Aber dort kann neuer Lebenssinn wachsen, wenn wieder ausgesät wird. Wo dieses gelingt, hat für mich Gott seine Hand mit im Spiel. Deshalb halte ich am Erntedankfest inne und danke auch für all die Kraft, die mir geschenkt wurde, um mit Schwerem fertig zu werden.

Ein weiteres Erntegerät ist die Harke aus Holz mit den langen Zinken: Eine Harke ist eine Art Rechen. Die Harke wurde damals aus Holz gefertigt. Damit wurde früher das Korn zusammengerecht. Eine einzelne Zinke hätte an diesem Gerät nicht viel ausgerichtet. Viele Zinken waren nötig, die im Zusammenspiel die Halme zusammengezogen haben. Deshalb erinnert mich die Harke daran: Menschen sind aufeinander angewiesen. Sie brauchen einander um zu leben.

Deshalb danken viele am Erntedankfest Gott für die Menschen, denen sie ihre Lebensfreude verdanken. Manche denken an ihre Kinder und Enkel, die den Alltag nicht nur stressiger, sondern auch fröhlicher und abwechslungsreicher machen. Andere an ihre Eltern, die ihnen die Ausbildung ermöglichten und sie liebevoll begleiten.

Andere danken für ihre Freunde, weil sie für sie ein offenes Ohr haben. Ein Bekannter sagte mir mal: Wenn du „Danke“ sagst, sagst du damit „Auf das, was ich bekommen habe, habe ich keinen Rechtsanspruch: „Danke, dass Sie mir zugehört haben. Das hätten Sie nicht tun müssen...“ „Danke, dass Sie mich so freundlich bedient haben – sie hätten auch missmutig dasitzen können.

Wenn ich Danke sage, bringe ich zum Ausdruck: Auf Hilfe und Zuwendung habe ich keinen Anspruch. Deshalb möchte ich auch für all die Menschen dankbar sein, die mich im letzten Jahr auf allerlei Weise unterstützt haben. An ihnen wird mir besonders deutlich, dass ich vieles, was für mein Leben wichtig ist, nur empfangen kann.

Für die guten Freunde zu danken ist noch vergleichsweise einfach. Aber wie steht es mit denen, die mir erst einmal nicht gefallen? Schaffe ich das, Gott auch für die zu danken, die mir unsympathisch sind, an denen ich mich gerieben habe? Ja, denn, ich lerne auch aus spannungsvollen Beziehungen für mein Leben. Manche Auseinandersetzung hat mir neue Blickwinkel ermöglicht.

Ich denke an diejenigen, die es schaffen, mich innerhalb von Sekunden auf die Palme bringen. Die immer das Falsche sagen und vor allem das, was ich gerade nicht hören will. Ich finde solche Leute oft lästig, nervig. Aber genau an diesen Leuten kann ich auch wachsen. Im Umgang mit ihnen lerne ich mich zu beherrschen oder mich zu wehren. Ich muss mich mit ihrer Kritik auseinandersetzen. So ärgerlich solche Menschen auch sind, sie zwingen mich dazu, mich mit Dingen zu beschäftigen, die ich sonst lieber ignorieren würde. So entwickele ich mich auch weiter.

Daran soll die Harke mich immer wieder erinnern und mich dankend innehalten lassen: Gott hat mir Menschen zur Seite gestellt, die mein Leben bereichern: Meine Familie, meine Freunden und Kollegen und auch die, an denen ich mich reibe.

Als drittes Erntegerät habe ich die Hungerharke vor Augen. Eine Hungerharke ist ein Rechen, der unten am Stiel über die ganze Breite halbrund gebogene Zinken hat. Sie stehen sehr eng beieinander, denn die Hungerharke diente dazu, auf den abgeernteten Kornfeldern die restlichen Halme zusammen zu rechen. Keine Ähre sollte liegenbleiben. Manche können sich nicht vorstellen, dass es einen Unterscheid macht, ob einer 100 Ähren mehr hat oder weniger. Doch leider ist es so –früher und auch heute. Viele Menschen auf der Erde leiden Hunger und ihr Leben hängt davon ab, ob sie 100 Ähren mehr oder weniger haben. Auch in unserer Wohlstandsgesellschaft wächst die Zahl der Menschen, die arm sind. Manchen in unserem Land fällt es schwer, Erntedank zu feiern. Sie haben wenig oder nichts, wofür sie danken können. Wenn ich heute Gott danke, dass es mir gut geht, möchte ich auch an diese Menschen denken.

Denken und danken gehören ja zusammen. Dankbare und denkende Menschen werden aktiv. Ihr Dank lässt sie handeln. Sie folgen der Aufforderung, wie sie im Hebräerbriefes formuliert ist: „Gutes zu tun und mit anderen zu teilen, vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott“. (Hebr13,16).

Gutes zu tun, zu teilen – dafür gibt es viele Möglichkeiten. Die einen spenden Geld und unterstützen damit Hilfsprojekte im In- und Ausland. Andere entscheiden sich dafür, einzelne Personen, die in Not geraten sind, zu unterstützen.

Gutes tun kann man aber nicht nur mit Geld. Manche „spenden“ Zeit. Allein in meinem Umfeld gibt es dafür schöne Bespiele. Einige kümmern sich um Flüchtlinge, heißen sie willkommen und helfen ihnen, sich in der neuen Heimat einzuleben. Andere wiederum gehen mehrere Tage pro Woche in die Schule und helfen benachteiligten Kindern und Jugendlichen bei den Hausaufgaben und beim Lernen. Und manche teilen und tun Gutes allein durch ihr Mitdenken. Auch beten gehört dazu. Gerührt hat mich, was eine alte Frau auf dem Krankenbett gesagt hat: In die Kirche kann ich ja nicht mehr kommen. Und mithelfen kann ich auch nicht mehr. Aber ich bete für die Gemeinde, und letzten Sonntag habe ich besonders für die Kinder gebetet, die getauft wurden. Immerhin: das kann ich tun“. Ja, das kann sie tun. Und das ist schon ganz viel.

So gibt es viele Möglichkeiten, Gutes zu tun, den eigenen Dank an Gott in Taten umzusetzen. Die Hungerharke soll mich an diejenigen erinnern, die meine Hilfe brauchen oder mit denen ich teilen kann.

Als viertes und letztes Erntegerät steht mir der Dreschflegel vor Augen. Dieses alte bäuerliche Werkzeug bestand aus einer Holzstange, an der unten mit einer Kette ein zweites kürzeres Holz angebracht war. Damit hat man auf die Ähren eingedroschen, wenn sie in die Scheunen geschafft waren, So wurden die Getreidekörner von den Ähren getrennt – die Spreu vom Weizen.

In der Bibel wird dieses Bild auch verwendet, um zu beschreiben, wie das Gute vom Bösen getrennt wird. Das Falsche vom Richtigen. In Gleichnissen spricht Jesus von dem Spreu, das vom Weizen getrennt wird. Damit drängt Jesus seine Zuhörer zur Entscheidung: „Wofür entscheidest du dich?“ Diese Frage stellt sich heute auch für den Umgang des Menschen mit der Natur.

Beim Erntedankfest gerät die ganze Schöpfung in Blick: Tiere, Natur und die Schätze in der Erde. Nach der Sintflut hat Gott uns ein Versprechen gegeben: eine wertvolle Zusage, freiwillig, aus Liebe zu seinen Geschöpfen und der Schöpfung: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht (1.Mose8,22).

Alles bleibt von Gottes Seite her in einem Rhythmus, der dem Leben auf der Erde eine stabile Grundlage gibt. Nun kommt es auf den Menschen an. Er trägt eine Mitverantwortung für die Erde.

Wir dürfen nach dem Willen Gottes die Erde nicht zu bebauen, sondern wir sollen sie auch bewahren. Wo Menschen sich dieser Aufgabe ernsthaft annehmen, entsteht Gutes für alle. So konnten wir in den Nachrichten der letzten Wochen hören, dass das Loch in der Ozonschicht sich verkleinert hat, weil Menschen handelten. Die Vereinten Nationen haben im Montrealer Protokoll von 1987 die Herstellung und Verwendung von schädlichen Fluorkohlenwasserstoffen, die in Kühlmitteln und Sprühfalschen enthalten waren, verboten. Dieses Verbot hat Erfolg gezeigt. Zum Glück, denn die Ozonschicht schützt die Erde und uns vor lebensgefährlicher UV-Strahlung.

Doch nicht nur Regierungen können was für den Klimaschutz tun. Auch wir! Manche pflanzen Bäume, die CO2 binden. Andere verzichten oft aufs Auto und fahren Rad. Wir können also alle dazu beizutragen, die Schöpfung zu bewahren.

Dafür steht der Dreschflegel, der Spreu und Weizen voneinander trennt. Sense, Harke, Hungerharke und Dreschflegel – vier alte Erntegeräte erinnern daran: Wir haben mit unserer Arbeit Teil am Wachsen und Ernten, denn: „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land. Aber dann spürt man am Ende doch: Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand: Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn, drum dankt ihm dankt, drum dankt ihm dankt und hofft auf ihn“.

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