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Heimat finden, Pilger bleiben

Heimat finden, Pilger bleiben

Martin Vorländer
Ein Beitrag von Martin Vorländer, Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

Alle Sachen sind gepackt, die Umzugskartons gefüllt. Vor zehn Tagen habe ich das mal wieder selbst erlebt. Aufbrechen, auf dem Weg sein, eine neue Heimat suchen und hoffentlich finden – darum geht es oft in der Bibel und im Glauben. In meinen Umzugstagen jetzt ist mir das ganz handfest nahe. Ein letzter Rundgang durch die leer geräumte Wohnung. Die Zimmer sehen größer und kleiner zugleich aus. Größer, weil sie ohne Möbel größer wirken. Aber auch kleiner, weil ich mir nur noch schwer vorstellen kann, wie viel Leben in diese Räume reingepasst hat.

Kuschelige Winterstunden in Decken auf dem Sofa, hitzige Diskussionen unter Freunden im Sommer auf dem Balkon. Die Wohnung zu Geburtstagsfesten bevölkert von Gästen oder nach einem anstrengenden Arbeitstag behaglich als Rückzugsort. Schlechte Nachrichten habe ich versucht, in diesen vier Wänden zu verarbeiten, genauso wie ich vor Freude durchs Wohnzimmer gehüpft bin. Alles ist jetzt ausgeräumt. Ich ziehe die Wohnungstür hinter mir zu und gebe den Schlüssel ab. Kein Zurück mehr. Von nun an werden andere Menschen hier wohnen. Sie werden die Zimmer nach ihrem Geschmack einrichten und die Räume mit ihren Geschichten füllen. Was wartet auf mich? Ich gebe Vertrautes auf. Bekomme ich dafür anderswo wieder ein Zuhause, eine Heimat?

Musik

Eine neue Heimat suchen, auf dem Weg sein, davon erzählt die Bibel schon in ihren ersten Kapiteln. Von zweien, die ihre Zelte abbrechen und aufbrechen, ohne zu wissen, was sie erwartet: Abraham und Sara. Eigentlich sind die beiden in einem Alter, in dem man keine großen Umbrüche mehr erwartet, eher in Ruhe seinen Lebensabend am vertrauten Ort genießen will. Abraham ist, so erzählt die Bibel, schon fünfundsiebzig Jahre alt. Er lebt mit seiner Frau Sara fast ein ganzes Leben lang in der Stadt, in der schon sein Vater sich niedergelassen hatte. Es ist kein Grund in Sicht, warum Abraham und Sara das ändern sollten. Da hört Abraham eines Tages die Stimme Gottes:

"Und der HERR sprach zu Abraham: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zu einem großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und den verfluchen, wer dich verflucht; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abraham aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte."
1. Mose 12, 1 – 4 a

Da zog Abraham aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte. Leichter gesagt als getan. Was die Bibel nicht erzählt: Wie hat Sara, seine Frau diese Nachricht aufgefasst? Frau, wir ziehen los! Wohin? Keine Ahnung. Wie lange sind wir weg? Ich glaube, für immer. Warum? Weil Gott es sagt. Ich kann mir vorstellen, dass es eine Weile gedauert hat, bis die beiden wirklich bereit zum Sprung ins Ungewisse waren. Aber schließlich brechen sie auf. Sie verlassen den Ort, an dem sie geborgen und sicher waren. Gott scheint sehr wohl zu wissen, was er den beiden zumutet, denn er zählt auf, was sie alles hinter sich lassen müssen: Vaterland, Verwandtschaft, Vaterhaus.

„Geh!“, sagt Gott. Und Abraham geht. Er und seine Frau sollen heimatlose Gesellen werden, herumwandernde Nomaden, die nicht wissen, wo sie den Platz für ein neues Leben finden werden. Ich breche ja gerne mal auf zu einer Reise, um andere Orte und Länder zu sehen, um mir frischen Wind um die Nase wehen zu lassen und voller neuer Eindrücke wieder nach Hause zurück zu kommen. Abraham und Sara brechen auf – ohne zu wissen, wohin. Und sie werden auch nie wieder in ihre Heimat zurückkehren. Kein Zurück, keine Rückfahrkarte in der Tasche.

Musik

Jede und jeder von uns kennt kleine und große Aufbrüche im Leben. Manche verliefen unter dramatischen Umständen, andere waren geplant und geordnet. Aber immer lösen Aufbrüche viel aus: Abschied nehmen, sich auf Neues freuen, ungewiss sein, was die Zukunft bringt. Von meiner Mutter kenne ich die Erzählung, wie sie als fünfjähriges Mädchen die Flucht aus Schlesien in Richtung Westen erlebt hat. Der Großvater war im Krieg, die Großmutter mit drei kleinen Kindern allein. Die beiden jüngsten wurden in den Kinderwagen gepackt. Meine Mutter als die älteste lief neben her, zu den überfüllten Zügen, zusammen mit vielen Tausenden Menschen in Panik auf der Flucht.

Im heillosen Durcheinander am Leipziger Hauptbahnhof wäre meine Mutter beinahe verloren gegangen. Vor lauter rennenden Beinen hatte das kleine Mädchen kurz ihre Familie aus den Augen verloren und wollte schon in die falsche Richtung laufen. Aufmerksame Passanten schoben sie zurück und sagten zu ihr: „Da gehörst du hin.“ Was wäre passiert, wenn die nicht zur Stelle gewesen wären? In ganz kurzen Momenten kann sich ein ganzer Lebenslauf entscheiden und der von Kindern und Kindeskindern.

Mit den Erinnerungen von Eltern und Großeltern kann man sich vorstellen, was Menschen durchmachen, die heute auf der Flucht sind. Tagtäglich verlassen Einzelne und ganze Familien ihre Heimat, weil sie verfolgt werden, am Verhungern sind oder in ihrem Land keine Lebensperspektive haben. Sie setzen sich in seeuntüchtige Nussschalen und riskieren ihr Leben für die Fahrt über das Mittelmeer nach Europa. Sie verstecken sich im Radkasten eines Flugzeugs oder lassen sich von Schlepperbanden im Containertruck verfrachten. Das alles für den kleinen Funken Hoffnung, dass sie in der Fremde eine bessere Heimat finden.

Als Deutsche können wir das besonders gut nachvollziehen. In ein paar Tagen wird an den Bau der Mauer vor dreiundfünfzig Jahren gedacht. Auch an die Fluchtgeschichten an der innerdeutschen Grenze. Tausende haben die Flucht unter dramatischen Umständen geschafft, bei vielen wurde sie verhindert. Mehr als tausend Menschen sind dabei umgekommen oder ermordet worden.

Und dann, nach der Wende 1989, haben viele Ostdeutsche „Go West!“ gesagt und sind mit Begeisterung gen Westen gezogen. Sie hatten die Hoffnung im Trabi, ein Land zu finden, in dem es besser ist. Ihr Vaterland, die DDR, hatte sich aufgelöst. Aber es braucht seine Zeit, bis das, was man für die große Verheißung hält, zu einer Heimat werden kann. Enttäuschungen mit eingeschlossen.

Was es heißt, aufzubrechen, das gilt in anderer Weise auch für die Pendler und für die, die wegen der Arbeit gefordert sind, mobil zu sein. Als moderne Nomaden sollen wir allzeit zum Aufbruch bereit sein, um dorthin zu ziehen, wo es gute Arbeit gibt. Dann haben viele ein kleines Zimmer am Arbeitsort, werden unter der Woche zu Singles und am Freitag heißt es: „Ich fahre am Wochenende nach Hause“ –  was heißt das? Wo ist mein Zuhause? Da, wo ich arbeite? Wo ich wohne? Wo ich jedes Wochenende hinpendele? Wo ich aufgewachsen bin? Wo meine Familie und Freunde sind?

Musik

Gott sagt zu Abraham:

„Geh aus deinem Vaterland in ein Land, das ich dir zeigen will“

Er hat’s gut, denke ich mir. Natürlich ist es eine Zumutung, dass Gott ihm befiehlt, von heute auf morgen alles zu verlassen. Aber immerhin hat Abraham das Wort Gottes im Reisegepäck. Er soll ein Land finden, das Gott ihm zeigen will. Abraham soll auf seine alten Tage noch ein großes Volk werden und einen großen Namen bekommen. Gott verspricht ihm:

„In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“

Das ist doch was! Dafür lohnt es sich, das Risiko einzugehen und loszuziehen. Ich dagegen finde es nicht so einfach, den Ruf Gottes herauszuhören bei den Aufbrüchen, die sich mir bieten oder die mir zugemutet werden. Nicht immer, wenn es heißt „Geh! Mach dich auf!“, muss das die Stimme Gottes sein. Kann gut sein, dass es manchmal auch geboten ist, sich der Aufforderung zum Aufbruch zu widersetzen. Weil man da, wo man ist, am Besten für sich selbst und für andere ein Segen sein kann.

Nicht jede erste Gelegenheit muss die beste sein, für die man gleich alles stehen und liegen lässt. Kann sein, dass es sich lohnt zu warten, bis sich das auftut, was tatsächlich stimmig ist und sich fügt. Was Fügung ist und Gottes Führung, was sich als Segen herausstellt, habe ich auf meinen Lebensstationen erst auf dem Weg erfahren. Segen habe ich sogar erlebt, wenn der Weg, den ich gehen musste, kein leichter war.

So groß die Verheißung ist, mit der Gott Abraham und Sara losschickt – ein Spaziergang wird ihr Weg in Gottes Namen nicht. Das deutet sich schon in Gottes Worten an:

„Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, wer dich verflucht.“

Auch mit Gott an der Seite wird Abraham Menschen begegnen, die ihn verfluchen, ihm Übles wünschen und ihm das Leben schwer machen. Der Weg unter Gottes Verheißung ist nicht glatt und einfach zu gehen. Abraham muss mit Widerständen rechnen und mit Schwierigkeiten zurechtkommen. Die Strecke ins verheißene Land ist auch nicht gerade kurz: Abraham und Sara werden viele Jahre unterwegs sein, von einem Ort an den anderen ziehen, Irrwege eingeschlossen.

Wie die moderne Nomaden und Migranten heute müssen auch sie sich mit denen, die schon da sind, auseinander setzen. Schließlich geht es ums Überleben. All das macht mürbe. Die Zeit wird ihnen lang werden, ohne dass Gottes Verheißung sich erfüllt. Ein Jahr nach dem anderen vergeht, ohne dass der versprochene Nachkomme unterwegs ist. Sara und Abraham verlieren auf halber Strecke schon den Glauben, jemals noch ein Kind zu bekommen. Und doch erleben sie Gottes Segen. Sie bekommen ein Kind, sie kommen im gelobten Land an.

Gott bleibt treu mit seinem Segen an unserer Seite, auch wenn der Weg lang und kein leichter wird, wenn er steinig und schwer ist. Dazu ermutigt die Glaubensgeschichte von Abraham und Sara. Widerstände bleiben nicht aus. Und nicht jeder Widerstand ist ein Wink Gottes. Mancher Widerstand, manches, was schwierig ist, ist eher wie ein Fluch, den mir andere bereiten.

Und auch ich selbst kann mir gründlich im Weg stehen. Oft genug schlage ich wissentlich oder unwissentlich die falsche Richtung ein, verrenne mich in etwas. Aber in allen Irrungen und Wirrungen werde ich Gott nicht abhanden kommen. So weit ich selbst mich auch entferne, er bleibt mir nahe. Ob ich in der Fremde bin oder mir selbst fremd geworden, bei Gott habe ich Heimatrecht. Gott ist ein Weg-Gott, ein Gott, der mit mir geht. Gott sagt zu Abraham:

„Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein“

Segen ist bei Abraham und Sara konkret: Nachkommen, ein Land, in dem sie sich ausbreiten, ein großer Name. Eltern und Großeltern wissen, was für ein Segen ein Kind bedeutet. Neues Leben, ein neuer Mensch ist da, einem selbst verwandt und doch eine ganz eigene Persönlichkeit, die die Welt für sich entdeckt.

Doch auch wer keine Kinder hat, erlebt Segen. Ich empfinde es als Segen, wenn fruchtbar und ertragreich ist, was ich tue, wofür ich meine Ideen und meine Kraft einsetze. Segen ist, wenn ich Zuspruch erfahre und mich vom Leben beschenkt fühle. „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein“, sagt Gott zu Abram. Segen reicht über mich selbst hinaus. Gott ruft mich auf den Weg, damit ich auch für andere ein guter Wegbegleiter werde, damit ich für andere ein Segen bin.

Musik

Was das heißt,  gesegnet sein und selbst ein Segen sein, das drückt für mich ein Lied aus. Als Teenager war ich auf einer Reise in England. In einer gotischen Kathedrale in einem kleinen Ort in der Nähe von London hörte ich den Kirchenchor ein Lied singen, ein Liebeslied - von Gott an die Menschen. Die Töne und Worte klangen durch die hohen Bögen der Kathedrale und faszinieren mich bis heute. Der Chor sang Worte wie aus dem Mund Gottes:

"Wirst du kommen und mir nachfolgen, wenn ich dich nur bei deinem Namen rufe? Willst du aufbrechen, ohne das Ziel zu kennen, und nie derselbe sein, immer neu werden? Wirst du meinen Namen bekannt machen? Wirst du meine Liebe zeigen und weitergeben? Wirst du mein Leben in dir wachsen lassen und dein Leben in mir?"
Text: John L. Bell; Musik: Kelvingrove 1987, Iona Community. 

Unser Leben in Gott, Gottes Leben in uns. Das gibt himmlische Heimat, ob wir uns gerade auf vertrautem Terrain bewegen oder zu neuen Ufern aufbrechen müssen.

Denn Glauben heißt aufbrechen. Dafür ist man nie zu jung oder zu alt. Gott hätte auch den viel jüngeren Neffen Abrahams, den Lot, aussuchen und zu ihm sagen können: „Geh aus deinem Vaterland in das Land, das ich dir zeigen will“. Aber Gott wählt den 75 Jahre alten Abraham und  Sara. Nun geht das Alte Testament mit Altersangaben ja mitunter etwas großzügig um. Klar ist, dass Abraham bereits im fortgeschrittenen Alter war. Und klar ist: Gott sortiert nicht nach der Kategorie „zu alt“. Ob man auf die 40, 70 oder 100 zugeht, wir sollen neugierig bleiben, was Gott mit uns vorhat.

Es gibt keinen Grund, sich selbst abzuschreiben oder auszurangieren. Neu anfangen kann man ein ganzes Leben lang, von klein auf bis hinein in das Alter, das einem geschenkt wird. Mut zu Neuem, Aufbruch sogar zu Ungewohntem, davon erzählt die Bibel von ihren ersten Seiten an. Abbrüche und Aufbrüche, die Wechsel, manchmal auch, das, was scheinbar ausweglos ist: Mit Gott an der Seite führen sie zu neuem Leben. Was mich hoffen lässt und mir  Mut macht, mich auf Anfänge und Aufbrüche einzulassen, ist: Auf die himmlische Heimat vertrauen, die ich immer bei mir habe, egal wo ich gerade unterwegs bin. Und ich glaube und hoffe: Am Ende werden wir alle ganz heimkehren und heil ankommen bei Gott. Das wird ein Aufbruch werden!

Musik

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