Von der Kraft der Lieder - ein hessischer Lobgesang

Von der Kraft der Lieder - ein hessischer Lobgesang

Dr. Fabian Vogt
Ein Beitrag von Dr. Fabian Vogt, Evangelischer Pfarrer in der Öffentlichkeitsarbeit, Frankfurt

Einmal, so erzählt es das Alte Testament, ist Gott so richtig wütend über die Verstocktheit der Menschen. Da droht er ihnen durch seinen Propheten Jeremia auf eine ziemlich verstörende Weise. Er sagt nämlich:

"Wenn ihr nicht auf mich hören wollt, dann werde ich hinweg nehmen allen fröhlichen Gesang." (Jeremia 25,10)

Können Sie sich das vorstellen: Eine Gemeinschaft, in der niemand mehr singt? In der keine heiteren Lieder mehr erklingen? In der die Freude an schönen Melodien einfach so verstummt? Eine trostlose Zeit ohne Musik? Oder zumindest eine Zeit, in der keiner und keinem mehr nach Singen zumute ist?

Ein schrecklicher Gedanke! Zumindest für mich. Ich liebe es nämlich zu singen. Sei es am Lagerfeuer zur Gitarre, sei es, wenn im Radio einer meiner Lieblingstitel läuft, wenn ich zu einem tollen Chor gehöre oder wenn ich im Gottesdienst bin. Leidenschaftlich, schmetternd – und eben vor allem fröhlich. Eine Welt ohne fröhlichen Gesang wäre für mich ein ziemlich abschreckender Ort.

Heute Morgen möchte ich vom Singen schwärmen. Und mal schauen, ob ich herausbekommen kann, warum Musik so kraftvoll ist und was das Singen so schön macht. Denn Gesang ist ja viel mehr als nur eine melodiöse Aneinanderreihung von Tönen, er ist eine eigene Sprache – und wer diese Sprache kennt und begeistert pflegt, dessen Seele wird gesund. Zumindest hat der große Reformator Martin Luther einmal sehr pointiert geschrieben:

"Singen ist die beste Kunst und Übung. Es hat nichts mit der Welt zu tun und es eignet sich auch nicht zum Streiten. Sänger sind fröhlich und schlagen sich die Sorgen aus dem Sinn." (Martin Luther, Tischreden)

So weit Luther. Schauen wir mal, ob er Recht hat. Und ob wir uns neu zum Singen ermutigen lassen. Zum Beispiel von den „Wise Guys“ – hier kommt ihr Titel „Sing mal wieder“.

1. Musik: Wise Guys, Sing mal wieder

„Singen ist die beste Kunst und Übung“, hat Martin Luther gesagt. Eines zumindest ist klar: Singen war die erste Form der Kultur. Und die Wissenschaft geht davon aus, dass die Menschen, lange bevor sie schreiben konnten, alle wesentlichen Erfahrungen mit Liedern weitergegeben haben. Weil Lieder sich besser einprägen als Texte und weil Musik in besonderer Weise auch das Herz anspricht.

Tatsächlich benutzen viele Sprachen auf der Welt bis heute für „Dichtung“ und „Gesang“ das gleiche Wort. Weil eben früher die großen Mythen, die historischen Erinnerungen und die Weisheiten der Völker meist durch ein Lied festgehalten wurden. Deswegen kann man sogar davon ausgehen: Die großen Erzähler der Vergangenheit waren wahrscheinlich immer auch Sänger. Singende Erzähler. Erzählende Sänger.

Die Illias und die Odyssee, die altgriechischen Geschichten über Odysseus: Das waren ursprünglich Lieder. Ja, viele der großen Überlieferungen tragen die Musik sogar im Titel: etwa das Nibelungenlied, das Rolandslied oder der Sonnengesang des Franz von Assisi: alles gesungene Geschichten. Vorgetragen bei Hofe, beim Rat, in der Schlossküche, im Wald oder vor dem Kamin. Und wenn im Mittelalter der Minnesänger in einem Ort oder auf einer Burg vorbeikam, dann war er nicht nur Unterhalter, er war Zeitung und Fernsehen in einer Person. Er eröffnete mit jedem seiner Gesänge eine unbekannte Welt für die, die zugehört haben. Da waren Lieder wie Lebenselixiere. Sie regten die Phantasie an und erweiterten den Horizont.

Darum wird in vielen  Geschichten aus alter Zeit in besonders wichtigen Momenten erst mal ein Lied angestimmt. Schon bei den Israeliten in der Bibel. Nachdem Gott das Volk aus Ägypten befreit und heil durchs Rote Meer geführt hat, was machen die Menschen da? Sie fangen an zu singen. Und wie! Im Buch Exodus heißt es:

"Da nahm Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, eine Pauke und rief: ‚Lasst uns dem Herr singen, denn er hat eine herrliche Tat getan." (2. Mose 15,20+21)

Dieser Jubelgesang gilt als erstes Lied in der Bibel. Und wir sehen: Begeisterung braucht Musik. Sie will sich ausdrücken. Sie findet im Gesang einen Weg, sich mitzuteilen und andere teilhaben zu lassen.

Über Jahrtausende hinweg haben Menschen ihre existentiellen Erfahrungen in Lieder gefasst. Deshalb halten viele Kulturen den Gesang bis heute für ein Bindeglied zwischen Himmel und Erde. Ja, fast schon für etwas Heiliges. Und das gilt besonders in den Religionen. Der Schamane, der Priester, der Muezzin: Die singen nicht einfach, sie knüpfen mit ihren Liedern auf geheimnisvolle Weise ein Band zwischen den Sphären. Sie machen deutlich, dass Lieder viel mehr sind als gesungene Worte, eine Kommunikation, die weit über den Verstand hinausreicht. Sie erfasst das Herz und klingt bis in den Himmel.

Vielleicht genießen Glaubende es deshalb so sehr, zu ihrem Gott und für ihren Gott zu singen. Zum Beispiel mit den Psalmen der Bibel. Sie sind zu einem Liederbuch des Glaubens geworden, mit höchster Freude und tiefstem Leid. Die Glaubenden bringen darin ihr ganzes Leben singend vor Gott. Sie lassen sich von den Tönen bis in die höchsten Höhen tragen und fühlen sich dabei dem Schöpfer des Himmels und der Erde ganz nah.

Und was ist mit den Tiefen? Darum geht es beim Propheten Jeremia. Am Anfang habe ich von seiner wüsten Drohung erzählt: „Keine Lieder mehr!“ Diese Drohung wurde damals wirklich wahr. Als die Israeliten in Babylon gefangen saßen, verging ihnen das Singen. In einem Psalm heißt es:

"Wir saßen an den Flüssen Babylons und weinten. Wir hängten unsere Harfen an die Weiden, denn die Herrscher wollten, dass wir singen. Aber wie können wir in der Fremde für Jahwe singen?" (Psalm 137,1-4)

Doch als die Menschen nach und nach begreifen, dass Gott sie trotz ihrer Verstocktheit liebt, kehrte der Gesang zurück:

"Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann wird unser Reden ein einziges Jubeln sein." (Psalm 126,1-2a)

Eine Psalm-Vertonung ist auch die Bach- Motette „Singet dem Herrn ein neues Lied“, die wir jetzt hören.

2. Musik: „Singet dem Herrn ein neues Lied“ (Bach-Motette)

Martin Luther, dessen „Erneuerung der Kirche“ 2017 groß gefeiert wird, wäre ohne die Kraft des Gesangs mit seiner Reformation wohl nie so weit gekommen. Natürlich konnte Luther seine revolutionären Ideen vor allem mit Hilfe der neu entdeckten Drucktechniken von Johannes Gutenberg im ganzen Land verbreiten. Doch dadurch erreichte er nur die Intellektuellen, sprich: alle diejenigen, die lesen konnten. Und das waren damals nicht allzu viele.

Für alle anderen wählte der Reformator eine besondere Art der Kommunikation, nämlich den Gesang. Ein Beispiel: Am 1. Juli 1523 wurden zwei ehemalige Mönche, die sich der Reformation angeschlossen hatten, in Brüssel verbrannt. Wie reagierte Luther? Er schrieb das Lied „Von den zweyen Marteren Christi ...“ Und diese Komposition wurde zu so etwas wie einem mittelalterlichen Hit. Überall wurde sie gesungen: auf den Marktplätzen, in den Schänken und auf den Burgen. Bald kannte jeder die Geschichte der beiden Mönche, die verbrannt wurden, weil sie sich zur Reformation bekannt hatten. Und viele empörten sich über das schändliche Verhalten der Henker. Das Lied wurde zu einem Protestschrei. Wer mitsang, der zeigte: „Diese Hinrichtung halte ich für falsch. Und sie macht mich wütend.“

Texte, die man singt, bleiben haften. Sie bewegen uns. Und manchmal fangen wir unwillkürlich an, sie vor uns hin zu singen. Luther wusste das. Darum ermutigte er seine Anhänger von Anfang an, möglichst viel zu singen. Nicht nur von garstigen, sondern vor allem von den guten Dingen, an die er glaubte. Darum setzte er sich selbst hin und fing an, neue Kirchenlieder zu schreiben. Lieder, die seine leidenschaftliche und lebensfrohe „Theologie der Freiheit“ widerspiegeln und weitertragen sollten.

Dabei nahm Luther einen Leitsatz sehr ernst ... und zwar den, den er auch seiner Bibelübersetzung zugrunde gelegt hatte:

"Wir müssen dem Volk aufs Maul schauen. Der Mutter im Haus, den Kindern auf den Gassen, den Leuten auf dem Markt – so, dass sie verstehen, was wir sagen." (Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen)

Eigentlich ganz einfach: Wer verstanden werden will, der muss verständlich reden. Und zwar so, wie es die Leute im Alltag tun. Er muss ihre Sprache kennen, ihre Art, Gefühle auszudrücken, was sie ersehnen, was sie hoffen, wovor sie Angst haben.

All das übertrug Luther auf seine Lieder. Und war dabei ziemlich radikal. Einige seiner Melodien holte er sich aus den Festzelten und vom Jahrmarkt. Das heißt: Er hörte, wie die Menschen seiner Zeit aktuell sangen, übernahm kurzerhand den Stil und machte dazu geistliche Texte: So entstanden Glaubens-Lieder. Musikalisch am Puls der Zeit. Weil Kirchenmusik für Martin Luther eben keine Gegenkultur aufbauen sollte. Sie hatte eine klare Aufgabe: Lebensnah zu verkündigen. Sie sollte einladen. Motivieren. Und vor allem: Glauben stiften.

Wenn man Martin Luther heute fragen könnte, wie wir den 500. Jahrestag seiner Reformation feiern sollen, was glauben Sie, was er sich wünschen würde? Dass man sich nur wie im Geschichtsunterricht daran erinnert, was er vor 500 Jahren getan hat? Ich bin überzeugt, etwas andere wäre ihm wichtiger. Dass man seinen Traum weiterlebt. In Bezug auf die Lieder heißt das, heute zu fragen: Wie kann die populäre Musik unserer Zeit dazu beitragen, dass sich Menschen wieder neu vom Glauben begeistern lassen?

Die Antwort geben neue geistliche Lieder, die in den vergangenen Jahrzehnten überall in Deutschland geschrieben und komponiert wurden. Jetzt gerade ist mit Unterstützung der „Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau“ ein neues Liederbuch herausgekommen, das einige der schönsten dieser Lieder versammelt. Lieder, deren Autorinnen und Autoren alle aus Hessen kommen. Dieses hessische Liederbuch hat den schönen Titel „Atem des Lebens“. Es macht Lust, „Die Reformation weiter zu singen“.

Viele der 333 Lieder haben sich schon in Gemeinden etabliert. Aber es finden sich auch ganz junge darunter, Lieder, die noch dabei sind, sich in die Herzen zu singen. Soziologen sagen ja, dass sich unsere Gesellschaft zurzeit so schnell verändert, wie noch niemals zuvor in der Geschichte. Dem wollen die Textdichterinnen und Komponistinnen, die Sänger und Arrangeure mit ihren zeitgemäßen Kirchenliedern gerecht werden. Sie wollen zeigen: Die Botschaft von der Liebe Gottes, von der Versöhnung und vom Frieden muss immer wieder neu formuliert und gesungen werden. Damit der „Atem des Lebens“ niemals aufhört.

Wie schön das sein kann mit dem Singen, erzählt ein Chanson der hessischen Musiker von „Duo Camillo“.

3. Musik „Troubadour“ (Duo Camillo)

„Wo man singt, da lass dich nieder. Böse Menschen haben keine Lieder.“ Ein wunderschönes Sprichwort. Weil es so einladend ist. Weil es echte Gemeinschaft ausdrückt. Und weil es etwas von der Kraft der Musik deutlich macht. Das trifft zwar alles zu – aber das Sprichwort ist trotzdem falsch. Denn natürlich haben auch böse Menschen Lieder. Leider. Zum Beispiel die Nazis. Sie wussten das gemeinsame Singen auch für ihre zerstörerischen Zwecke zu nutzen.

Umso wichtiger ist es, mit Musik verantwortlich und liebevoll umzugehen. Bewusst darauf zu achten, was man singt. Eben weil Singen so mitreißen und beflügeln kann. Weil es Kräfte weckt. Ein altes britisches Motto lautet: „Ein Shanty ist so stark wie 10 Männer.“ Matrosen haben nachweislich mehr Energie, wenn ein Lied ihnen beim Arbeiten Rhythmus und Schwung gibt. Darum erklingen in so vielen Shanties Rufe wie „Hey, ho, hey ho“ oder „Blow, boys, blow.“ Bei jedem „Hey“ oder „Blow“ wurde der Anker oder das Segel ein weiteres Stück aufgezogen. Und wenn es stimmt, dass Singen stark machen kann, dann wird noch deutlicher, warum es etwas mit dem „Atem des Lebens“ zu tun hat.

Die schönste Geschichte über die heilende Kraft der Musik steht im ersten Samuelbuch der Bibel. Dort wird erzählt, dass der König Saul im Alter von einem bösen Geist Gottes geplagt wurde. Heute würde man diesen Zustand wohl eher so beschreiben: Saul ist schwermütig, depressiv, verzweifelt, traurig und antriebslos. Irgendwann geht es ihm so schlecht, dass seine Hofweisen ihm raten:

"Suche dir jemanden, dessen Harfenspiel deine trüben Gedanken vertreibt." (1. Samuel 16,16)

Ein kluger Rat, finde ich. Tatsächlich entdecken die Helfer einen solchen Künstler: David. Von dem heißt es, dass er wunderbar spielen und singen kann. Es wird auch extra erwähnt, dass er gut formulieren kann – und dass Gott mit ihm ist. Das bedeutet: Er ist ein echter Musiker. Bei ihm kann man sicher sein: Er setzt die Kraft der Musik mit der richtigen Motivation und mit dem richtigen Können ein. Und es funktioniert. In der Bibel heißt es:

"Sooft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter und es ward besser mit ihm und der böse Geist wich von ihm." (1. Samuel 16,23)

Diese Szene hat Rainer Maria Rilke einmal so beschrieben:

"König, hörst du, wie mein Saitenspiel / Fernen wirft, durch die wir uns bewegen: / Sterne treiben uns verwirrt entgegen, / und wir fallen endlich wie ein Regen, / und es blüht, wo dieser Regen fiel." (Rainer Maria Rilke, Neue Gedichte)

Musik schafft Klang-Räume, in denen die Menschen sich fallen lassen können und in denen das Leben zu blühen anfängt. Was für ein großartiges Bild! Dort, wo das Singen die Dunkelheiten in uns überwindet und heilt, da atmen wir auf.

Diese Vision steckt auch in dem neuen hessischen Liederbuchs „Atem des Lebens“: Es geht darum, wie David Lieder zu schreiben. Lieder, die Menschen etwas fröhlicher, etwas heller, etwas beschwingter machen. Dass die Schwermut der Leichtigkeit weicht – wenn Töne und Worte neue Hoffnung schenken.

Und weil die „Liedermachenden“ das als Glaubende tun, erzählen ihre Lieder auch von den Erfahrungen, die sie mit Gott gemacht haben. Insofern laden moderne Kirchenlieder – wie die Kirchenlieder aller Zeiten – auch zum Glauben ein. Aber sie drücken nichts auf, sie bedrängen nicht und sie bevormunden niemanden. Es sind musikalische Bekenntnisse, die einladen, sich immer wieder neu von der Schönheit Gottes begeistern zu lassen. Martin Luther hat das vor 500 Jahren so ausgedrückt:

"Der gläubige Mensch muss fröhlich und mit Lust davon singen, dass es andere auch hören und herzukommen." (Martin Luther, Vorrede zum Leipziger Gesangbuch)

Johann Pachelbels Choral „Singet dem Herrn“ hören wir zum Abschluss. Ich höre darin: Singen ist empfundener Glaube, ist Herzenssache, ist pralles Leben und eine Einladung zum Mitmachen.

4. Musik „Singet dem Herrn“ Johann Pachelbel

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