Sehnsucht nach Heimat

Sehnsucht nach Heimat

Ein Beitrag von Werner Schneider-Quindeau, Evangelischer Pfarrer, Frankfurt am Main

Heimat hat viele Gesichter und Bilder. Ein paar davon will ich genauer betrachten. Viele sehnen sich nach Heimat, auch wenn sie immer wieder enttäuscht werden. Zu allen Zeiten wünschen sich die Menschen ein Zuhause, wo sie behütet und geschützt und anerkannt sind. Heute Morgen gehe ich einigen dieser Träume von Heimat nach. Ich frage zugleich, wie das Vertrauen zu Gott meine Sehnsucht nach Heimat stillen kann. Menschen sind auf einem Weg unterwegs, der Grenzen hat. Keine Heimat ist ewig. Aber die Sehnsucht nach ihr hört nicht auf.

Für viele bekommt Heimat das wichtigste Gesicht durch die Orte und Menschen, wo sie Kinder gewesen sind. Es sind die Hügel und Wiesen eines Dorfes, das Stadtviertel, der Fluss, die Berge oder das Meer, wo ich aufgewachsen bin. Aber Landschaften sind nur ein Teil eines vertrauten Ortes. Wenn ich mich anerkannt und geborgen fühlen soll, dann gehören Menschen dazu: Eltern und Verwandte, Freundinnen und Freunde. Auch die, die gerade in den ersten Lebensjahren manch unsicheren Schritt ins Leben mit Rat und Tat begleitet haben. Das prägt für das ganze Leben.

Im Lauf des Lebens kehrt die Frage immer wieder: Was ist für mich Heimat? Ich zum Beispiel werde sie mir nächsten Sonntag aus gegebenem Anlass wieder stellen. In den Monaten März bis Mai finden in vielen Kirchengemeinden „Goldene Konfirmationen“ statt, das Jubiläum fünfzig Jahre nach der Konfirmation. Ich feiere meine „Goldene Konfirmation“ am nächsten Sonntag in einem kleinen Dorf im hessischen Hinterland zwischen Dillenburg und Biedenkopf. Es wird ein Wiedersehen mit alten Bekannten, die fast alle das Dorf, unser ehemaliges Zuhause, aus unterschiedlichen Gründen verlassen haben.

Nur wenige sind geblieben. Die meisten habe ich seit Jahrzehnten nicht gesehen. Alte Bekannte also, die inzwischen Fremde geworden sind. Sie haben an anderen Orten ein neues Zuhause gefunden, gearbeitet, Familien gegründet und vielfältige neue Beziehungen aufgebaut. Doch ihren Herkunftsort haben sie nicht vergessen, weil er ganz eng mit ihrer Kindheit und Jugend verknüpft ist. Ich bin beim Wiedersehen gespannt darauf, was dieser Ort für sie heute noch bedeutet. Denn das Dorf war nicht nur vertraut, sondern mit dem Heranwachsen wurde es zu eng und es bot wenige Möglichkeiten für das Lernen und das künftige Arbeiten.

Die Heimat verlassen. In der Heimat bleiben. Eine Heimat finden. Wie solche Geschichten aussehen, hat der Filmemacher Edgar Reitz in seiner Film- und Fernsehserie „Heimat“ gezeigt. Er begleitet die Bewohner des fiktiven Dorfes Schabbach im Hunsrück vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts bis in die Zeit der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Über dreißig Jahre nach der ersten „Heimatserie“ ist Reitz im vergangen Jahr mit dem Film „Die andere Heimat“ in das Hunsrückdorf des neunzehnten Jahrhunderts zurückgekehrt.

Jetzt erzählt er, wie eine Gruppe von Bewohnern nach Brasilien auswandert. Hunger und Arbeitslosigkeit, Wünsche und Träume nach einem besseren Leben ließen sie in ein völlig unbekanntes Land aufbrechen. Dort gründeten sie ein neues Dorf, das dem alten zum Verwechseln ähnlich sah. Fachwerkhäuser, Kleidung, die Kirche und die jährlichen Festen erinnerten an die ehemalige Heimat im Hunsrück.  Auch die alten Probleme wie Arbeitslosigkeit und soziale Kontrolle waren wieder da. War der Traum von der anderen Heimat nur eine Seifenblase, die angesichts der Wirklichkeit zerplatzte?

Denn keine irdische Heimat ist das Paradies. Die Frage, die Gott an den Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies gestellt hat, holt ihn immer wieder ein: Wo bist du, Adam? Wo ist dein Zuhause? Wie willst du mit anderen zusammenleben, arbeiten und wohnen, liebevoll füreinander sorgen und rücksichtsvoll aufeinander achten? Heimat stellt die Frage nach dem guten Leben.  Was ich wünsche und träume, an was ich mich erinnere und was mich enttäuscht hat, gehört ins Bild von Heimat. Sie ist ein Ort, nach dem sich die Menschen sehnen, weil sie sich an ihm angesichts ihrer Grenzen, ihrer Schwächen und Schmerzen angenommen und getragen wissen.

Musik: Aulis Sallinen, Horn-Concerto Op. 82, Norrköping Symphony Orchestra unter Ari Rasileinen, Esa Tapani Horn

Bilder von Heimat sind stets von Gefühlen geprägt. Man schaut zwiespältig drauf. Es ist ja alles mit dabei, was man erfahren hat. Es gibt den Blick zurück. Für die einen erscheint alles in schönstem Licht, die anderen erinnern sich  an die dunklen Seiten.. Es gibt den Blick nach vorn. Wenn Zukunft Heimat sein soll, dass ist es eine ideale Zukunft, in der das Leben gelingt. Von dieser utopischen Gestalt von Heimat hat der Philosoph Ernst Bloch in seiner Philosophie gesprochen. Am Ende seines Hauptwerks „Das Prinzip Hoffnung“ entwirft er eine Zukunft, in der der Mensch selbstbestimmt und ohne Zwang leben wird.

Er ist frei von der Mühe der Arbeit, kann mit Muße sein Leben genießen und entscheidet tatsächlich darüber, wer über ihn herrschen darf. So entsteht für ihn etwas – in Worten Blochs – „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Eine glückliche Kindheit kann bereits auf das große Ziel der Menschheit verweisen: eine Gesellschaft, in der alle wie Kinder umsorgt und geliebt werden. Was einmal romantische Sehnsucht nach verlorener Kindheit war, wird bei Bloch zur politischen Utopie der Zukunft. Was einmal noch nicht so ganz gelungen war, die Kindheit als Glück, kann ja noch werden.

Menschen wünschen und erträumen sich eine Heimat. Sie ist eine Sehnsucht, die tief in romantischen Herzen und Köpfen verankert ist. Dieses Sehnen teilt der Philosoph Ernst Bloch mit allen Menschen. Es ist ein unstillbares Heimweh. Erfüllt vom Wunsch, ganz bei sich selbst zu sein, bleiben die Bilder von Heimat immer auch gefährlich, weil sich kaum jemand ihrer Wirkung entziehen kann. Die Nationalsozialisten haben diese Sehnsucht nach Heimat und „Heimkehr“ für ihre Eroberungspolitik auf schreckliche Weise propagandistisch missbraucht. Auch im gegenwärtigen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine um die Halbinsel Krim sind diese Töne von der Heimkehr zu hören.

Weltweit wächst die Suche nach Heimat. Sie ist in den Flüchtlingen lebendig. Sie ist lebendig bei den Einsamen der Städte. Oder bei Minderheiten, die ausgegrenzt und diskriminiert werden. Wo findet die Sehnsucht nach Heimat ein Vertrauen? Ein Vertrauen, das die Trauer über verlorene Heimat teilt und die Hoffnung auf  eine andere Heimat weckt?

Musik: Astor Piazolla, Adiós Nonina, Interensemble Padova

Von den ersten bis zu den letzen Kapiteln erzählt auch die Bibel von Heimat. Von Heimat, auf die man hofft. Von Heimat, die man verloren hat. Zwischen Paradies und himmlischem Jerusalem sind die Menschen in den biblischen Geschichten unterwegs. Sie brechen immer wieder auf wie Abraham aus seinem Herkunftsort Ur in Chaldäa. Er macht sich auf den Weg in das von Gott verheißene Land, in dem Milch und Honig fließt.

Eine andere biblische Geschichte erzählt, wie die israelitischer Stämme aus der ägyptischen Knechtschaft von Gott befreit wurden und von ihrem Zug durch die Wüste. Später in ihrer Geschichte haben die Israeliten erlebt, wie sie ihre Heimat wieder verloren haben. Nach einem Krieg wurden viele von ihnen in die Fremde verschleppt, nach Babylon. Die Lieder, die aus dieser Zeit überliefert sind, sprechen von ihrer Sehnsucht, endlich wieder nach Hause zurückzukehren. Immer wieder geht es um  Heimat für Heimatlose, wobei das Heimweh sie stets auf Rückkehr hoffen lässt.

Auch in späteren Jahrhunderten wird die Sehnsucht nach Heimat besungen. In romantischen Kunstliedern wie Franz Schuberts „Die Winterreise“ und in zahllosen modernen Popsongs wie beispielsweise „By the rivers of Babylon“. Das religiöse Heimweh bildet den Nährboden, auf dem die Heimatbilder gedeihen.

Am Beginn der Geschichte, jenseits von Eden, fragt Gott: „Wo bist du, Mensch?“. Seitdem fragen sich Menschen: „Woher komme ich?“ und „Wohin gehe ich?“ Auch das spiegelt sich in biblischen Geschichten: Wie bei Abraham. Er wird aus der bisherigen Heimat herausgerufen, um eine neue andere Heimat mit und bei Gott zu finden.

Diese Haltung haben sich auch die ersten Christen zu Eigen gemacht. Die griechische Bedeutung des Wortes „Kirche“ bedeutet übersetzt: Es geht um Menschen die aus ihren Lebensverhältnissen herausgerufen werden, um sich zu Gott auf den Weg zu machen. Das Leben wird so zu einer Pilgerreise. In einem Brief des neuen Testaments, dem Hebräerbrief, heißt es:  „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“. (Hebr. 13,14).

Jesus selbst hat seinen Heimatort Nazareth verlassen, um als „Wanderprediger“ umherzuziehen und Menschen für seine Botschaft vom nahen Gottesreich zu gewinnen. Seine Jüngerinnen und Jünger sind ebenfalls nicht zu Hause geblieben, sondern haben Jesus auf seiner Wanderschaft begleitet. Das deutlichste Zeichen für die Heimatlosigkeit Jesu ist sein Kreuz auf Golgatha.

Die politischen und religiösen Machthaber wollten, dass Jesus von dieser Erde verschwindet. Dagegen setzt er die Vision einer Heimat für alle, die Gott den Menschen schenkt. Am Ende der Bibel wird dieses neue Jerusalem in einem überschwänglichen Bild geschaut. „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, … und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen“ lautet das Heimatbild am Ende der Bibel (Apk. 21,3,4).

Neben der jüdischen und der christlichen Tradition finden sich Bilder von Heimkehr und Heimat auch in anderen Religionen, wenn diese von Erlösung oder Erleuchtung sprechen. Heimweh sehnt sich in einer unerlösten Welt nach Hause. Der Friede soll endlich kommen und die Gewalt gegeneinander aufhören. Denn das erfahren wohl alle Menschen: Kein Imperium auf Erden kann Heimat garantieren. Die Sehnsucht nach Heimat stellt ganz einfache Fragen und braucht keine Überhöhungen, die in der Regel nicht halten, was sie versprechen.

Auf wenn können sich Menschen auf ihrem eigenen Weg verlassen, wie sie dies als Kinder zu den Eltern getan haben? Wer sorgt für sie und kümmert sich, wenn sie alt, schwach oder krank werden? Wo ist die Zuflucht, die sie für ein würdiges und gutes Leben brauchen? Die Sehnsucht nach Heimat sucht die Antwort auf ganz einfache existentielle Fragen.

Musik: Kenny Wheeler, Past Present

Heimat hat mit den grundlegenden Bedürfnissen des Menschen zu tun. Wer hungert, dem wird sein Zuhause zur Fremde. Wer krank und alt ist und nicht versorgt wird, fühlt sich ausgestoßen und allein gelassen. Wer nicht dazugehört, steht draußen vor der Tür. Wer ständig unterwegs ist, heute hier und morgen dort, dem fehlen die Bindungen, auf die er sich verlassen kann. Der Rückblick auf eine behütete Kindheit kann dann melancholisch stimmen. Aber der Wunsch nach Rückkehr der vergangenen Zeiten reicht nicht aus, um die Sehnsucht zu stillen. Heimat steht noch aus, weil alle Heimatversprechen sich bisher so nicht erfüllt haben. Dieser Mangel gibt der Sehnsucht nur neue Nahrung. Heimat bleibt ein zwiespältiges Gefühl und ihre Bilder können zwar die Sehnsucht bedienen, aber die langen Schatten kaum vertreiben.

Als Kind war ich im besten Fall geborgen. Im Laufe des Lebens steigen innere und äußere Anforderungen. Jede und jeder muss für sich selbst ein eigenes Zuhause finden. An was ich mich erinnere aus der Kindheit und Jugend, kann mitentscheiden, welches Zuhause ich wähle. Dabei können Gerüche und Geschmack, Sprache und Landschaften, ein bestimmter Tonfall und ein gewisses Gemeinschaftsempfinden bereits das „heimatliche Gefühl“ auslösen. Die Fans von Fußballmannschaften dürften diese Gefühle genauso teilen wie rheinische Karnevalisten oder lokale Geschichtsvereine. Man möchte dazugehören, aber auch selbst sein Leben verantworten. Denn Heimatgefühle können auch sehr beschränkt sein. Sie sind dann nicht offen und neugierig auf Fremdes und Neues. Sie engen auch die eigenen Spiel- und Denkräume ein. Das kann zu erheblichen Konflikten führen.

Antworten Heimatbilder auf solche Konflikte? Oder werden sie unter den Teppich gekehrt? Vielleicht wird die Sehnsucht nach Heimat auch deshalb oft enttäuscht, weil zu viel Harmonie von ihr erwartet wird. „Wie im Himmel“ soll es dort ja meistens sein.

Jesus von Nazareth hat in vielen Bilder und Geschichten darauf aufmerksam gemacht: Im Himmel geht es vor allem um Gottes Heimat für seine Geschöpfe. Sein Recht wird dort herrschen, das allen gilt und niemanden ausgrenzt. Nicht herrschen wollen, sondern vor allem für- und untereinander da sein ist angesagt. Heimat ist ein utopischer Ort, den Gott für die Menschen reserviert hat und  für den man sich schon einmal anmelden kann. Im Vertrauen der Kinder in ihre Eltern, in der Liebe und Fürsorge der Eltern in ihre Kinder scheint diese Anmeldung auf einen Platz im Himmel bereits durch. Heimatlich geht es dort zu, wo Menschen sich freundschaftlich und solidarisch auf den Weg machen. Scheinbar unüberwindliche Grenzen sind kein Hindernis mehr. Konflikte können friedlich gelöst werden. Unterschiedliche Interessen bilden keinen unüberbrückbaren Gegensatz. Nach dem gemeinsamen Wohl sucht man auf Augenhöhe..

Irdische Heimat ist noch keine heile Welt und geht auch immer wieder verloren. Aber Gott teilt die Sehnsucht nach Geborgenheit und Vertrauen. Denn als einen Ort für das gute Leben hat er seine Schöpfung gewollt. Oft genug stehen wir vor einer Tür, die Heimat zu versprechen scheint und doch uns fremd sein lässt. Die Herkunft ist oft genug nur eine Erinnerung, die langsam verblasst und die Zukunft ist ungewiss. Auf der Suche nach Heimat lassen sich die Menschen von ihren Erinnerungen und Hoffnungen leiten. Aber findet das Sehnen überhaupt ein behütetes Zuhause oder bleibt es heimatlos? Vertrauen auf Gott wäre eine Möglichkeit, dem Geheimnis der Heimat und ihrer Sehnsucht noch einmal ganz neu ansichtig zu werden.

Musik: Astor Piazolla, Oblivion, Joshua Bell (Geige) und Carel Kraayenhof (Bandoneon)

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