Glückliche Menschen
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Glückliche Menschen

Dr. Ulf Häbel
Ein Beitrag von Dr. Ulf Häbel, Evangelischer Pfarrer, Laubach-Freienseen

Ich bin einem glücklichen Menschen begegnet. Wenigstens habe ich ihn so erlebt. Es war kein Jungverliebter, der alles durch eine rosarote Brille sieht. Es war eine alte Frau. Sie lebte bis zu ihrem Tod auf einem Bauernhof in unserer Nachbarschaft. Im ersten Stock des alten Fachwerkhauses hatte sie eine kleine bescheidene Wohnung. Die passte zu ihr. In der Stube stand ein alter Tisch, den einer ihrer Vorfahren, der Tischler war, gemacht hatte. Meist lagen ein paar alte Fotos darauf, die das Dorf zeigten wie es früher war oder vergilbte Zeitungsausschnitte und alte Kalenderblätter. Wenn ich sie besucht habe, erzählte sie gern anhand dieser Dokumente aus der Geschichte des Dorfes und seiner Menschen. Sie konnte fantastisch erzählen. Jede Gestalt, die sie beschrieb, war in ihrem Erzählen ganz lebendig und nah – der Gänsehirt, den es im Dorf einmal gab, der Hufschmied, die Hebamme, der Schuster.

Als unsere Kinder noch klein waren, gingen sie gern zu ihr hin. „Oma Hedwig“ – so hieß sie – „kann so schön erzählen“, sagten sie. Manchen Konfirmandenjahrgang habe ich zu ihr geschickt. Auch die Jugendlichen hörten ihr gern zu wie die Konfirmation früher gefeiert wurde oder Jungen und Mädchen nach der Schulentlassung einen Beruf suchten. Die meisten wurden Bauern oder Handwerker im Dorf. Die Mädchen gingen in einen Haushalt, um Kochen und Hauswirtschaft zu lernen. Abends hatte sie sich dann in der Spinnstube getroffen; da haben sie gesungen und vom Leben erzählt.

Musik: Georg Philipp Telemann, Konzert B-Dur für 2 Blockflöten, Satz 2 (Vivace), The Acadamy of Ancient Music unter Christopher Hogwood

Oma Hedwig hat nicht nur von schönen Dingen erzählt – von fröhlichen Festen, Freude und Glück. Sie hatte auch schwere und mühevolle Zeiten erlebt. Davon redete sie auch. Und wenn sie von ihrer Kindheit erzählte, dann hörten unsere Kinder gespannt zu. Denn sie beschrieb eine Welt, die sich unsere Kinder kaum vorstellen können und von der auch ich wenig zu erzählen weiß.

Oma Hedwig war nach dem ersten Weltkrieg aufgewachsen. Damals gab es im Dorf viel mehr Kinder als heute. Fast alle wuchsen in ärmlichen Verhältnissen in kleinen familiären Bauernhöfen auf. Die Landwirtschaft, von der sie alle leben mussten, war im kargen Vogelsberg ein mühsames Geschäft. Alle mussten da anpacken beim Füttern der Tiere, beim Heumachen, in der Kartoffelernte, alle – auch die Kinder. Sie waren als Arbeitskräfte mit eingeplant. ‚Und wenn sie freie Zeit zum Spielen hatten, dann spielten sie mit geschnitzten Stöcken und Steinchen, mit Eisenreifen und Murmeln auf der Straße – kein eigenes Zimmer mit Fernseher oder Computer, kein Lego oder elektrische Eisenbahn. Es war eine ärmliche Kindheit, meinte sie; aber trotzdem irgendwie glücklich.

Musik: Georg Philipp Telemann, Konzert B-Dur für 2 Blockflöten, Satz 4 (Vivement), The Acadamy of Ancient Music unter Christopher Hogwood

Wie sich die Zeiten geändert haben im Laufe eines langen Lebens. Wenn die alte Frau von ihrer Jugendzeit erzählt hat – das war so um den zweiten Weltkrieg herum – dann war ich ein aufmerksamer Zuhörer. Sie redete davon wie die Nazis die Leute durcheinander gebracht und das Dorf gespalten hatten. Der damalige Pfarrer, der sich der SA angeschlossen hatte, hat einen im Dorf sehr beliebten Lehrer mit Hilfe der Nazis vertrieben. Bis heute ist jene Zeit ein wunder Punkt in der Geschichte dieses Dorfes, in dem ich seit fast fünfundzwanzig Jahren lebe. Doch man muss sich der Geschichte stellen, sowohl der eigenen Lebensgeschichte als auch der Geschichte seines Dorfes oder seines Volkes. Denn was ich heute bin, das bin ich durch die Erlebnisse und Ereignisse geworden, die mich geprägt haben. Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen. Schließlich muss man wissen woher man kommt, um zu verstehen, wer man ist.

Die alte Frau, der ich solche Einsichten verdanke, hat ihren Mann durch den Krieg verloren. Den Hof musste sie selbst bewirtschaften, ihren Jungen alleine aufziehen. Die Nachkriegszeit, in der es an allem fehlte, war auch nicht leicht – kein ordentliches Werkzeug bei der Arbeit, zu wenig Helfer bei der Ernte, elendes Saatgut.

Sie hat dann auch den rasanten Aufstieg in der Landwirtschaft erlebt. Alles musste auf einmal viel größer sein und schneller gehen. Die bearbeiten Flächen wurden größer, Traktoren und Maschinen kamen auf und wurden immer stärker und teurer. Ständige Hektik trieb die Menschen immer mehr an. Wachsen und weichen lautete das Motto, schneller werden müssen und dabei schlapp machen, Konkurrenzkampf, in dem man unterliegt. Und es verschwand ein Hof nach dem anderen. Heute gibt es einen einzigen Bauern im Dorf, der noch von seiner Landwirtschaft lebt.

Irgendwie ist die alte Frau, die mir das alles erzählt hat, damit fertig geworden. Sie hat nie verbittert gewirkt wenn sie erzählte oder auf andere schimpfte. Sie hat nie böse oder gehässig über andere Menschen geredet. Sie brauchte so etwas nicht. Wenn sie erzählte, war sie ganz bei sich, innerlich gelassen und ruhig. Sie schien mit sich selbst, mit ihrer Lebensgeschichte und ihrer Welt einverstanden zu sein. Ein glücklicher Mensch.

Musik: Georg Matthias Monn, Sinfonia in D-Dur, Satz 3 (Allegro), L’Arpa festante unter Michi Gaigg

Wie kommt es, dass ein Mensch mit sich selbst und seiner Welt einig ist? Über diese Frage habe ich oft nachgedacht, nicht nur nach Gesprächen mit Oma Hedwig. Mir sind mehr Menschen begegnet, die oft ein schweres Leben hinter sich hatten und trotzdem damit im Einklang waren. Das weiß ich auch von meiner Mutter, die als Kriegerwitwe uns Kinder alleine großgezogen hat. Das war ihre Leistung. Offensichtlich macht es irgendwie auch ein bisschen zufrieden Schweres und Mühe bewältigt zu haben. Doch bei der alten Frau, die ich gelegentlich besucht habe, fand ich noch eine andere Antwort.

An der Wand in der Stube hingen Fotos von ihrer Familie – dazwischen ihr Konfirmationsschein. Auf den hat sie manchmal mit ihrem Finger gedeutet. Darauf stand: Christus sagt: Ich bin das Licht der Welt, wer an mich glaubt wird nicht im Finsteren wandeln. Das war ihre Antwort auf meine Frage, wie sie das alles geschafft hat im Leben, das es nicht nur gut mit ihr gemeint hatte. Es war dieser Glaube: Christus, das Licht, das in unsere Dunkelheit scheint.

Über diesen Satz aus dem Johannesevangelium wird heute in vielen evangelischen Kirchen gepredigt. In diesem Vers Joh. 8,12 leuchtet im wahrsten Sinn des Wortes etwas auf: Licht in der Finsternis, Stern am nächtlichen Himmel, Kerze in der dunklen Jahreszeit.

Was leuchtet da auf? Ich würde es Hoffnung nennen. Die brauchen wir gerade dann, wenn dunkle Schatten auf unsere Wege fallen oder wir im Dunklen tappen. In der Bibel gibt es viele Geschichten, die das Licht als Sinnbild von Hoffnung beschreiben. Das Volk, das im Finsteren wandelt, sieht ein großes Licht, heißt es in einer Botschaft, die in der Weihnachtszeit gelesen wird.

Oder: Der Stern von Bethlehem zeigt den Weisen aus einem fernen Land den Weg zur Krippe. Die Sonne, die aufgeht und die Nacht vertreibt und mit ihrer Wärme neues Leben aus der Erde hervorlockt. Oder: Vielleicht etwas volkstümlicher gesagt: Wenn du meinst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Irgendwie gehören Hoffnung und Lebenszuversicht mit Lichtsymbolen zusammen. Hoffnung leuchtet auf, sagen wir. Ein Mensch strahlt Zuversicht und Vertrauen aus. Und das tut gut.

Der Philosoph Ernst Bloch, der im letzten Jahrhundert gelebt hat, hat das in seinem Lebenswerk ausgeführt. Er gab ihm den Titel: „Das Prinzip Hoffnung“. Darin schreibt er von der ewigen Hoffnung der Menschen auf Frieden und von ihrer Sehnsucht nach Glück. Er malt diese Hoffnung mit Symbolen des Lichtes: die Frühlingssonne, welche die Natur wieder weckt, die Fackel, die etwas anzündet, der Stern am Himmel, der Orientierung gibt in der Nacht. Ernst Bloch nennt diese Hoffnung „das Träumen nach vorwärts“. Es ist nicht der Traum zurück in die gute alte Zeit oder eine vermeintlich bessere Welt, in der das Leben einfacher war. Die Hoffnung auf Glück und erfülltes Leben schlummert in jedem Menschen wie die Glut in der Asche, die wieder aufflammen will. Und sie gibt uns Kraft, Ja zu sagen zum Leben wie es ist.

Musik: Georg Philipp Telemann, Konzert für 3 Trompeten und Orchester, 3. Satz, Wynton Marsalis mit dem English Chamber Orchestra unter Raymond Leppard

Für Christen ist die Hoffnung auf ein erfülltes Leben nicht nur ein Traum. Sie hat einen Grund. Es ist der Glaube an Jesus Christus. Christus sagt: Ich bin das Licht der Welt. So steht es im Johannesevangelium und an einer anderen Stelle der Bibel wird hinzugefügt, sozusagen die Konsequenz: Ihr seid das Licht der Welt. Gemeint ist, dass alle, die an Christus glauben, das Licht dieser Hoffnung weitertragen und verbreiten.

Es wäre ein Missverständnis, sich selbst zum Licht machen zu wollen. Ich weiß um die Gefahr, so tun als wäre ich derjenige, der Licht ins Dunkel bringen oder sich selbst ins Rampenlicht stellen müsste. Ich bin das Licht der Welt – das wäre auf der einen Seite arrogant, auf der anderen Seite überfordernd.

Da finde ich die biblische Botschaft: Christus ist das Licht der Welt und durch uns scheint dieses Licht hindurch, entlastend und ermunternd: Ich muss nicht das Licht sein und ich bin auch nicht für jede Dunkelheit verantwortlich. Für mich heißt das: Sei so wie du bist: wahrhaftig und echt, bescheiden und ehrlich, anderen Menschen zugewandt und zuversichtlich.

Du musst dich nicht verstecken, dein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Du musst dich aber auch nicht überheben. Vielleicht liegt das Glück, das wir alle suchen, darin: Ja zu sagen zu sich selbst und zum Leben wie es ist.

Die alte Frau, von der ich erzählt habe, war mit sich selbst und ihrem Leben einverstanden, trotz aller Mühen und Schwierigkeiten. Und wenn sie mit ihrem Finger auf den Bibelspruch an der Wand deutete, dann wollte sie damit sagen: Guck dahin auf diese Verheißung: Christus – Licht der Welt; darin liegt eine Hoffnung, die dir in Höhen und Tiefen Gelassenheit und innere Ruhe schenkt. So konnte sie offensichtlich sie selbst bleiben – bescheiden und gütig und zu anderen ehrlich und liebevoll. Wahrlich ein glücklicher Mensch.

Musik: Johann Sebastian Bach, Wir eilen mit schwachen doch emsigen Schritten (BWV 78), Nils Mönkemeyer (Bratsche) und die Dresdner Kapellsolisten unter Helmut Branny.

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