Ihr Suchbegriff
Der Gottesknecht - eine Vision für das neue Jahr

Der Gottesknecht - eine Vision für das neue Jahr

Ein Beitrag von Helga Trösken, evangelische Pfarrerin im Ruhestand, Frankfurt am Main

Zwölf Tage ist das neue Jahr alt. Wie jedes Jahr ist der Alltag schnell zurückgekommen. Manche Wünsche, Vorsätze und Hoffnungen sind vielleicht noch im Kopf, aber sie werden blasser. Gerade jetzt tut es gut, sich an große Visionen zu erinnern. Daran, dass es nicht beim „immer so weiter“ bleiben wird. Da lohnt es, sich Hoffnungsbilder vor Augen zu halten, die schon Menschen vor uns neuen Mut gegeben haben.

Manchmal helfen Gedenktage, sich wieder mit Hoffnungen zu verbinden. Auch in diesem Jahr stehen besondere an. Manche werden offiziell begangen, wie der Beginn der beiden Weltkriege, der erste vor hundert Jahren, der zweite vor fünfundsiebzig Jahren. Andere werden weniger beachtet, weil sich vielleicht zu wenige erinnern. Zum Beispiel: Vor fünfzig Jahren besuchte der schwarze amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King auf Einladung der evangelischen Kirche die damalige DDR. Von der Regierung der DDR wurde er gefeiert. Wörtlich sagte sie: Er wäre „der geistige Vater einer revolutionären Massenbewegung“. Von der Westberliner Presse wurde er als „Handlanger des Marxismus“ diffamiert. In seiner Predigt in der überfüllten Marienkirche in Ost-Berlin aber sagte Martin Luther King:

„Überall, wo Menschen die trennenden Mauern der Feindschaft abbrechen, da erfüllt Christus seine Verheißung. In diesem Glauben können wir aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung hauen. In diesem Glauben werden wir miteinander arbeiten, miteinander beten, miteinander für die Freiheit aufstehen in der Gewissheit, dass wir eines Tages frei sein werden.“  

Eine Ermutigung, die die Menschen nicht nur in der DDR gut verstanden. Ebenfalls vor fünfzig Jahren wurden in der Nationalen Volksarmee der DDR „Baueinheiten“ eingerichtet, in denen der Wehrdienst ohne Waffen geleistet werden konnte. Das war eigentlich nicht vorgesehen, aber es gab mutige junge Männer, die nicht zur Armee gehen wollten.  Diese Bausoldaten wurden anfangs eingesetzt zum Bau militärischer Anlagen, als Krankenpfleger in Militärkrankenhäusern, als Küchenhelfer, um deutlich zu machen: Es gibt keine Wehrdienstverweigerung.

Bis zum Ende der DDR waren Bausoldaten dann auch in der Industrie oder im Braunkohletagebau eingesetzt, überall da, wo Arbeitskräfte fehlten. Sie hatten in jedem Fall Nachteile. Sie konnten nicht jeden Beruf wählen oder wurden nicht zum Studium zugelassen. Viele von ihnen waren in der Friedensbewegung vor der Wende aktiv. Bis heute ist noch nicht ausreichend gewürdigt, was das friedensethische Engagement dieser Bausoldaten bedeutet hat, die oft aus kirchlichen Gruppen kamen.

Ich denke auch an diese Menschen bei dem Bibeltext, der dem heutigen Sonntag zugeordnet ist, dem 1. Sonntag nach Epiphanias, dem Sonntag nach dem Dreikönigstag. Man nennt diesen Text:  „Das erste Lied vom Gottesknecht“. Der Prophet Jesaja lässt Gott so sprechen:

Sieh, Mein Knecht, den Ich stütze:
Meinen Erwählten, den Meine Seele wünscht,
an Ihm habe ich Gefallen gefunden.
Ich gebe Meinen Geist auf ihn,
Recht soll er zu den Völkern hinausbringen.
Er schreit nicht, er ruft nicht laut,
er lässt seine Stimme draußen nicht hören.
Ein geknicktes Rohr zerbricht er nicht,
und einen glimmenden Docht löscht er nicht aus,
zuverlässig bringt er das Recht hinaus.
Er verglimmt nicht, und er knickt nicht ein,
bis er einsetzt auf der Erde Recht.
Auf seine Weisung warten die Inseln.
So spricht die Gottheit, GOTT, den Himmel schafft sie und spannt ihn aus,
gründet die Erde und was auf ihr wächst,
gibt Atem dem Volk auf ihr und Geistkraft denen, die auf ihr gehen:
Ich, GOTT, habe dich gerufen in Gerechtigkeit
und ich halte dich in meiner Hand.
Ich habe dich gebildet und eingesetzt zum Bund mit einem Volk,
zum Licht für die fremden Völker,
um die blinden Augen zu öffnen,
um Gefangene aus dem Gefängnis zu führen,
heraus aus dem Kerker jene, die in Finsternis sitzen.
Ich, GOTT, das ist mein Name –
meinen Glanz gebe ich niemand anderem
und meinen Ruhm keinem Götzen.
Das Frühere, siehe, es ist gekommen,
und das Neue gebe ich an euch weiter,
ehe es gewachsen ist, lasse ich es euch hören.

(Jesaja  42, 1-9 Bibel in gerechter Sprache und R. Gradwohl)

Musik: César Franck, Fantasie C-Dur, H .E. Roß (Orgel)

Licht für die Völker, Befreier, Erwählter. Es sind feierliche Worte und  schöne Bilder, mit denen Gott durch den Propheten den kommenden Menschen, den Gottesknecht ankündigt. Doch da stocke ich schon: Gottesknecht, Knecht?? Das ist heutzutage eher ein Schimpfwort. Ein Wort aus einer vergangenen Zeit, als es eindeutige Rangordnungen gab, eben Herren und Knechte.

Den Knecht ließ man arbeiten. Er musste seine Pflicht tun, den Anordnungen des Herrn entsprechen. War eine Aufgabe erledigt, wartete die nächste. Knechte waren weisungsgebunden, abhängig vom Wohlwollen der Herren. Da gab es große Unterschiede. Knechte konnten geknickte Rohre werden, geschlagen, abgebrochen in ihrem Selbstwert, ein glimmender Docht kurz vor dem Verlöschen. Andrerseits galt ein guter und getreuer Knecht auch als Segen. Aber die Zeit der Knechte in diesem Sinn ist vorbei.

Der Gottesknecht dagegen ist erwählt, lässt der Prophet Gott sagen. Wie passt das zusammen? Als erstes fällt auf: Der angekündigte Knecht macht keinen Lärm. Er schreit nicht, er ruft nicht laut, er sucht nicht die Öffentlichkeit, um sich bemerkbar zu machen und seine Aufgabe zu erfüllen.

Darin unterscheidet er sich von denen, die heute Einfluss nehmen wollen, die oft lautstarke Unterstützung organisieren, nicht nur in Wahlkämpfen. Alle Kriege sind mit Lärm verbunden, mit Geschrei der Führer und der Verführten, besonders krass  im Zweiten Weltkrieg, der durch Brüllen zum totalen Krieg erklärt wurde.  Auch heute wird geschrieen im Irak, in Syrien, in Afghanistan. Auch wenn Völker um ihr Recht kämpfen, scheint es nicht anders zu gehen als mit Geschrei, wie auf den Barrikaden in Kiew. Der Knecht, der in der Bibel angekündigt wird, macht kein Geschrei. Er verführt nicht. Er kommt auf leisen Sohlen. Jeder Druck ist ihm fremd. Kein Mensch muss schreien, denn jedem widerfährt Recht. So legt das Raschi, ein jüdischer Gelehrter, aus:

„Er muss nicht seine Stimme vernehmen lassen, damit die Völker auf ihn hören – sie kommen von selbst zu ihm. Er braucht sie nicht mit lauter Stimme zum Schweigen bringen, denn von selbst legen seine Hörer die Hand auf den Mund.“               
(R. Gradwohl, Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, Band 4)

Der Knecht steht in engster Verbindung zu Gott. Er ist erwählt von Gott, beauftragt, berufen und gestützt. Gottes Hilfe wird ihm in besonderem Maße zuteil. Ohne diese Hilfe könnte er seine Aufgabe nicht erfüllen. Er soll eine neue gerechte Ordnung herstellen, und zwar so, dass die Schwächsten zu ihrem Recht kommen: „Ein geknicktes Rohr zerbricht er nicht, einen glimmenden Docht löscht er nicht aus“. Der Geknickte ist immer auch der Bedrückte. Der Knecht wird die sozial Schwachen behutsam anfassen und das ihnen zustehende Recht zur Geltung bringen. In der jüdischen Auslegung heißt es dazu:

„Die Waisen, die einem geknickten Rohr gleichen, wird er nicht zerbrechen, sondern sie durch seine Hand stärken, und die Witwe, die einem glimmenden Docht gleicht, der nicht einmal Ruß hervorbringt, löscht er nicht aus. Er wird sich keines Ansehens der Person und der Rechtsverdrehung schuldig machen, nicht wie die Schmeichler, die den Großen zu Gefallen sind und dabei das Recht der Schwachen beugen. So sehr spielt sich alles in Ruhe ab – sein Reden, sein Handeln -, dass die Schwachen es nicht einmal wahrnehmen.“  

Weil er so leise auftritt, könnte er als Schwächling erscheinen. Er ist es nicht. Er hat Ausdauer, ja, Verbissenheit in der Suche nach dem echten Recht, der Gerechtigkeit, der Wahrheit. Es  heißt  sogar: „ Der Knecht selber wird nicht verglimmen noch einknicken, ehe er das Recht auf der ganzen Erde eingesetzt hat“.

Musik: César Franck, Symphonie D-Moll (Psyché et Eros), 2. Satz Allegretto; Berliner Philharmoniker unter Carlo Maria Giulini

Wer ist der Knecht Gottes, der von Gott Erwählte? Jüdische Ausleger diskutieren verschiedene Möglichkeiten: Ein Einzelner oder das Volk der Gerechten insgesamt, der Prophet selber oder ein Messias aus dem Haus David, ein wiederkommender Mose oder der persische König Kyros, von dem die Israeliten hofften, er werde sie aus der babylonischen Gefangenschaft befreien, eine Einzelperson, die sich stellvertretend für ganz Israel sieht? Wie auch immer, an dieser Stelle hat christliche Auslegung von Anfang an deutlich gemacht: Dieser Gottesknecht ist Jesus Christus.

Auch die Stimme Jesu ist leise. Er führt keinen Kreuzzug. Er geht keinen Weg, der mit Macht gebahnt wird, wo dann zwangsläufig Leichen am Wegesrand liegen müssen. Er ruft nicht zum „Heiligen Krieg“ auf. „Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den verglimmenden Docht löscht er nicht aus“. Er wendet sich den Menschen zu, über die andere schon ihr vernichtendes Urteil gefällt haben. Unmissverständlich weist er auf die Geringsten hin, auf die, die gerne übersehen werden. Die Kranken richtet er auf, den Sündern und Sünderinnen ermöglicht er ein neues Leben. Sogar für die Zöllner, die korrupten Steuereintreiber, sieht er einen Weg, obwohl von denen wirklich nichts Gutes zu berichten war.

Lautstarke Worte sind nicht seine, wenn er das Reich Gottes verkündigt und durch seine Taten verwirklicht. Jesus hat den Menschen immer wieder befohlen zu schweigen. Zu schweigen auch über die Hilfe, die sie von ihm erhalten haben. Die Menschen sollen eben nicht durch Propaganda gewonnen werden, durch die schnelle Verbreitung der neusten Nachrichten über seine Person, über das, was er getan hat, zum Beispiel über Krankenheilungen oder Teufelsaustreibungen. Seine Botschaft will überzeugen, nicht überwältigen. Seine Botschaft soll in die Welt hinausgehen, aber sie verträgt keine Manipulation, keine falschen Versprechungen. Jesus steht für Gerechtigkeit ein bis zum Tod am Kreuz. So wird er zum Gottesknecht, auf dem Gottes Geist ruht, an dem Gottes Wohlgefallen sich zeigt.

Musik: César Franck, Symphonie D-Moll (Psyché et Eros), 4. Satz; Berliner Philharmoniker unter Carlo Maria Giulini

 „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen“. Was wäre, wenn diese Vision zum Leitbild für das neue Jahr würde? Ich stelle mir vor, wir gingen den Spuren nach, die der Gottesknecht bei Jesaja gelegt hat, den Spuren die Jesus Christus gelegt hat. Wir würden Menschen begegnen, die sich in diesen Bildern wiederfinden: Menschen, die krank sind zum Beispiel und die wenig Hoffnung auf Genesung haben. Menschen mit finanziellen Problemen, die oft seelische Probleme zur Folge haben oder umgekehrt aus seelischen Erkrankungen entstanden sind. Menschen, die Stärke vortäuschen, obwohl sie nicht weiter wissen. Menschen, die Gewalt erfahren haben – Gewalt in der Familie, in der Pflege, als Kinder, als Fremde, die stumm geworden sind und nicht einmal mehr klagen können. Glimmende Dochte, die man besser gleich auslöscht und durch starke Lichter ersetzt.

Menschen nicht weit von uns selbst. Vielleicht gehört der eine oder die andere, der oder die jetzt zuhört, auch dazu. Zugleich lassen wir uns nicht säuberlich aufteilen: hier die glimmenden Dochte und zerknickten Rohre, dort die Starken, denen alles gelingt. Ich bin sicher, dass wir alle die Erfahrung kennen, dass nichts mehr geht, nichts gelingt, keine Lösung in Sicht ist. Da ist es gut zu hören, dass Gottes Barmherzigkeit allen gilt. Sie wird konkret durch Gottesknechte in unseren Tagen. Sie helfen zum Vertrauen, dass es gut weiter gehen kann, auch wenn der Docht zu verlöschen droht.

Ich stelle mir vor: da sind Menschen, die auf Gottes Zusage trauen: „Ich habe dich zum Licht für die fremden  Völker bestimmt“. Vielleicht finden sie sich in einer Kirchengemeinde, wo Platz ist für angeschlagene und hoffnungslose, wo sie nicht befürchten müssen, dass man ihnen den Rest gibt, dass das  kleine Lebenslicht, das ihnen geblieben ist, auch noch ausgeblasen wird. Vielleicht hören sie, was den Gottesknecht ermutigt, die Zusage, dass Gott die Seinen nicht allein lässt, dass sie auch nicht alles alleine machen müssen. Vielleicht hören sie gute Worte, die tragen, wie damals vor fünfzig Jahren die Predigt von Martin Luther King in Ostberlin. Als er davon gesprochen hat, dass wir im Glauben miteinander arbeiten, beten und für Freiheit aufstehen werden.

Das Leitbild vom Gottesknecht ermutigt, weil es mit Hoffnung infiziert. Ein Knecht, wie altmodisch wir das Wort auch hören, wird Recht schaffen, verlässliches Recht, das die Schwachen im Blick behält. Das ist bestimmt kein religiöses oder soziales Parteiprogramm, vielmehr die Vision vom Leben, das gelingen wird. Eines Tages wird es soweit sein, dass die Wüste blüht, dass der Lahme tanzt und die Blinde sieht. Eines Tages? Diese Zukunft beginnt schon heute! Denn Gott ist bei den Seinen. So verspricht es Gott am Ende des Lieds von seinem Knecht:

„Das Frühere, siehe, es ist gekommen, und das Neue gebe ich an euch weiter, ehe es gewachsen ist, lasse ich es euch hören.“   

Musik: César Franck, Prelude, Fugue et Variation, H .E. Roß (Orgel)

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren