Ohne Kerzen und Gebete wäre die Mauer kaum aufgegangen

Ohne Kerzen und Gebete wäre die Mauer kaum aufgegangen

Ein Beitrag von Helwig Wegner-Nord, Evangelischer Pfarrer, Frankfurt

Die aktuelle Diskussion über die politische Entwicklung im Herbst 1989 überrascht mich wirklich. Natürlich: die Staaten des Ostblocks hatten alle eine Menge wirtschaftliche Probleme damals. Und auch in der Führung der DDR wussten die meisten, dass sich allein die sogenannte Westverschuldung auf 20 Milliarden Dollar belief. Das ist aber nur die eine Seite.

Auch ein Helmut Kohl kann nicht leugnen, dass es hier um etwas mehr gegangen ist als um einen wirtschaftlichen Zusammenbruch, einen Staatsbankrott Der Begriff von der „friedlichen Revolution“ verweist auf die Bewegung, die von unten, von Friedensgruppen und Kirchengemeinden getragen wurde. Die Menschen haben sich in Demonstrationen und Gottesdiensten gesammelt und mit Kerzen gezeigt, dass sie sehr verletzlich und ohne jede Gewalt die Verhältnisse ändern wollten.

Pfarrer Christian Führer, der vor wenigen Monaten gestorben ist, hatte schon 1982 in der Leipziger Nikolaikirche das wöchentliche Friedensgebet eingeführt. Er beschreibt, wie es im Herbst 1989 war, wenn sich nach dem Friedensgebet die Kirchentüren geöffnet haben: „Als wir, mehr als 2.000 Menschen, aus der Kirche kamen - den Anblick werde ich nie vergessen -, warteten Zehntausende draußen auf dem Platz. Sie hatten Kerzen in den Händen. Und wenn man eine Kerze trägt, braucht man beide Hände. Man muss das Licht behüten, vor dem Auslöschen schützen. Da kann man nicht gleichzeitig noch einen Stein oder Knüppel in der Hand halten.“

Auch wenn man nach so vielen Jahren das Recht hat, die Sache in einem neuen Licht zu bewerten: Ohne die Kerzen und Gebete wäre die Mauer wohl kaum aufgegangen. Das wird auch in Zukunft zur Geschichtsschreibung dazugehören. Horst Sindermann, der damals dem Zentralkomitee der SED angehört hat, soll später, als er auf die Ereignisse des 9. November angesprochen wurde, gesagt haben: „Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“

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