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Zeit für Bilanzen

Zeit für Bilanzen

Ksenija Auksutat
Ein Beitrag von Ksenija Auksutat, Evangelische Pfarrerin, Stockstadt

1.

Meine Freundin Sabine ist eine erfolgreiche Frau: ein guter Job, zwei Kinder, immer auf der Höhe der Zeit. Aber als wir uns vor zwei Wochen abends auf ein Schwätzchen getroffen haben, zog sie eine Negativ-Bilanz. Sie erzählte von einer Bewerbung, die nicht geklappt hat, sie wollte die Abteilungsleitung in ihrer Firma übernehmen, aber eine Kollegin bekam den Posten. Und ihr Urlaub war im Sommer auch ein Flop, die Ferienwohnung war schimmlig, sie mussten umziehen, der halbe Urlaub ging durch diesen Ärger verloren. Am Ende sagte sie „So ein doofes Jahr. Gut, dass es bald rum ist.“

Es ist fast zu Ende, dieses Jahr 2014. Die Jahresrückblicke im Fernsehen und Radio laufen schon seit Wochen. Es ist Zeit für die eigene Jahresbilanz: Was war gut und nicht so gut, Strich drunter und Bilanz. Viele kennen das auch aus ihrem Beruf: die Bilanz und den Jahresabschluss.

So eine Bilanz hat ja immer ihre zwei Seiten. Links stehen die so genannten Aktiva, rechts die Passiva. Wenn man als Unternehmen vernünftig arbeitet, dann sind die Aktiva größer als die Passiva und es bleibt ein Gewinn übrig.

Auch im eigenen Leben gibt es den aktiven Teil. Wo wir gestalten, Dinge bewegen, uns engagieren. Egal ob in der Familie, im Freundeskreis, im Beruf oder im Ehrenamt. Wir backen Kuchen und reparieren die Gartenhütte, wir machen Überstunden und eine Radtour mit den Freunden. Das macht oft zufrieden, jedenfalls, wenn es gut läuft.

Auf der Passivseite der Bilanz steht das Eigenkapital. Das ist die Substanz, die einem Unternehmen gegeben ist. Der Kernwert, das Vermögen, das es trägt.

Auch das gibt es im Leben. Da besteht das Eigenkapital aus dem Körper und der Seele. Beides bringt man sozusagen als Startkapital mit, es wurde einem von den Eltern mitgegeben, ist in Kindheit und Jugend vergrößert worden, auch mit dem, was man gelernt hat.

Dieses Eigenkapital kann man sogar vergrößern, zum Beispiel dann, wenn man sich regeneriert, auftankt, neue Kraft gewinnt. Das kann der Urlaub sein oder ein Saunaabend, ein Spaziergang im Wald oder der Besuch in einer Kirche.

Je nachdem, wie ausgeglichen die eigene Lebensbilanz ist, wie gut man es schafft, Aktiva und Passiva in Einklang zu bringen, gewinnt man an Substanz dazu oder verliert sie vielleicht. Also ist es gut, am Jahresende eine Zwischenbilanz zu ziehen.

2.

Jede Unternehmerin weiß: Mit dem Eigenkapital muss man behutsam umgehen, es pflegen und aufpassen, dass es nicht aufgezehrt wird. Eigenkapital wächst nur durch Rücklagen, die man ihm zuführt.

Übertragen aufs Leben heißt das: Rücklagen für harte Zeiten kann man immer nur dann bilden, wenn man im Alltag  am Ende zufrieden ist und die Energie reicht, die man einsetzt.

Nun lassen sich Bilanzen schönen. In der Wirtschaft werden Dinge manchmal trickreich geschoben, versteckt, überbewertet. Doch am Ende ist das Betrug und Selbstbetrug. Wenn es hart auf hart kommt, zählt nur, was wirklich an Substanz vorhanden ist. In einer Firma, in der es mal nicht mehr so gut läuft, wird schnell deutlich, wo Raubbau betrieben wurde und wie es wirklich steht. Das gilt auch für die eigene Jahresbilanz.

Man kann für seine Zwischenbilanz am Jahresende übrigens von Menschen lernen, die für sich so eine Art Gesamt-Lebensbilanz ziehen, weil sie wissen, dass ihr Leben bald zu Ende gehen wird.

Die Journalistin Doris Tropper hat solche Bilanzen aufgezeichnet. Sie ist ehrenamtliche Sterbebegleiterin. In ihrem Buch „Hätte ich doch … Von den Sterbenden lernen, was im Leben wirklich zählt\" erzählt sie von sieben Begegnungen mit sterbenden Menschen. Bei vielen stellt sich das „Hätte ich doch\"-Gefühl ein.

Da ist zum Beispiel der Unternehmer, der sich in einem endlos scheinenden Kreislauf von Auftragsbeschaffung, Auftragsabarbeitung und permanentem Wachstum bewegt hat. Er fragte sich: „Mein Maschinenpark ist immer top gewartet. Aber was ist im Laufe der Zeit aus mir geworden?“ Und er bilanzierte: „Ich wünschte, ich hätte nicht so viel Zeit mit meiner Arbeit und meiner Karriere vergeudet.\"

Ein ganz anderer Fall ist Kati, zehn Jahre alt und unheilbar an Krebs erkrankt. Sie weiß, dass sie sterben wird. Aber sie schafft es, jedem Tag einen kleinen Höhepunkt abzugewinnen: ein Eis essen, den Streichelzoo besuchen können, Seifenblasen machen.

Es sind nicht die ganz großen Weisheiten, die Tropper in ihrem Buch weitergeben kann. Aber es ist eben oft das Einfache, das schwer zu machen ist.

Es ist oft, in der Buchhaltersprache gesagt, immateriell: nämlich gute Erlebnisse mit anderen. Es ist das Gefühl, geborgen zu sein, jemanden zu lieben oder was Sinnvolles zu tun.

Eine Zwischenbilanz ist eine echte Herausforderung. Was ist mir wichtig im Leben? Und oft stellt sich heraus: Es geht nicht nur um Geld und Sicherheit, es geht am Ende um mehr.

3.

Im Gegensatz zur Bewertung wirtschaftlicher Bilanzen hat die Lebensbilanz keine objektiven Messgrößen. Ich stelle mir vor, dass Gott meine Bilanz prüft. Wie sieht mein Leben dann aus? Zu dieser Frage hat Margot Käßmann einmal gesagt: „Gott ist kein Buchhalter. In seiner Bilanz eines Lebens zählt auch, was sich nicht rechnet.“

Sie macht es am eigenen Leben fest. Sie hatte große Erfolge, damals, als sie beim Kirchentag arbeitete, dann Bischöfin und Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland wurde. Aber Margot Käßmann kennt auch die schlechten Zeiten: Sie erkrankte an Brustkrebs, ihre Ehe scheiterte und dann gab es noch diese Alkoholfahrt, nach der sie von ihren Ämtern zurückgetreten ist. Sie hat all das mit Gott erlebt, den Jubel wie die Verzweiflung.

Sie hat erfahren, was auch andere als Kern ihres Glaubens beschreiben: Vor Gott zählen nicht Erfolge und Leistungen. Auch Scheitern oder Schuld können einen von Gottes Liebe nicht trennen. Die Lebensbilanz ist größer als das, was man messen oder berechnen kann. Als Geschöpf Gottes muss ich mich nicht durch Erfolge beweisen.

Das gilt auch für den Rückblick vor Silvester. Denn wenn ich so auf die Jahresbilanz sehe, bekommt die Buchhaltung einen positiven Sinn. Wenn man vielleicht sogar einfach mal für einen Tag kleine „Zwischenabschlüsse” macht. Was habe ich heute erlebt, was ist mir widerfahren, worüber konnte ich mich freuen? Wenn ich so hinschaue, finde ich manches, das ich sozusagen meinen Rücklagen zuführen kann. Oder einfach darauf schaue, ob mein Verhältnis zwischen Aktiva und Passiva ausgeglichen ist. War ich nur am Rennen und Geben oder waren auch andere für mich da, hat mir jemand geholfen?

Vielleicht so, wie Doris Tropper es von den Sterbenden gelernt hat. Nicht alles, was wir einmal angefangen haben, muss immer so weiter gehen. Es gibt an jedem Tag die Chance, einen Moment zu genießen oder zu lachen. Es gibt keinen falschen Zeitpunkt, um Verzeihung zu bitten oder zu vergeben.

Und es gibt an jedem Tag die Chance auf so viel Gutes:

Einmal das Gesicht in die Sonne halten und durchatmen.

Einen alten Freund mal wieder anrufen.

Auf der Arbeit mal etwas anders machen als sonst.

Wer sich in seiner Bilanz am Ende des Tages, am Ende dieses Jahres oder dereinst am Ende des Lebens mit diesen Fragen beschäftigt, wird sein Leben mit einem anderen Blick anschauen und sich in einem anderen Licht sehen.

Auch meine Freundin Sabine konnte am Ende unseres Abends lachen. Sie wollte ja schon das ganze Jahr als negativ abhaken, weil so viele Dinge schief gelaufen waren. Doch in ihrer Bilanz tauchten schließlich auch einige positive Dinge auf. Und nun ist sie gespannt, was das neue Jahr für sie bereithält.

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