Volkstrauertag

Volkstrauertag

Thomas Zels
Ein Beitrag von Thomas Zels, Pastor, Freie evangelische Gemeinden Marburg

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Wo ist Farid, dein Mann? fragte ich Jamina nach dem Gottesdienst. Zu Hause, sagte sie, er ist sehr traurig. Dabei hielt sie ihren Säugling fest auf dem Arm, als könnte er ihr weggenommen werden. Farid und Jamina, so nenne ich sie hier, haben in unserer Kirchengemeinde Anschluss gefunden. Sie erklärte mir: Mein Mann ist traurig, weil Dana tot ist. Dana war die Tante ihres Mannes. Sie war in Syrien geblieben. Nun haben sie erfahren, dass sie durch einen Bombenangriff umgekommen ist. Der Rest der Familie lebt jetzt auf der Straße.

In vielen syrischen Städten funktioniert nichts mehr. Kein Wasser, kein Strom, keine Behörden. Es gibt kaum Hilfe. In Jaminas Augen sah ich Tränen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das Ehepaar ist schon seit einiger Zeit in Deutschland. Farid hat Arbeit gefunden. Die Familie gehört den syrisch-orthodoxen Christen an. Diese Bevölkerungsgruppe ist heute in Syrien zum großen Teil auf der Flucht. Die Familie lebt schon lange in Angst vor islamistischen Übergriffen. Ein Fluchtversuch in die Türkei scheiterte, weil die Grenze von Terrormilizen kontrolliert wurde.

Daraufhin flohen sie in den Libanon, in der Hoffnung, dort Arbeit und Wohnung zu bekommen. Aber es war aussichtslos. Zu viele hatten es schon vor ihnen versucht. Sie kehrten zurück. Dann wurde ihr Haus ausgebombt. Jetzt betteln sie sich wohnsitzlos durch die zerstörten Straßen ihrer Stadt. Die zweitgrößte Stadt Syriens beispielsweise, Aleppo, war ehemals wunderschön. Aleppos Altstadt mit seinem weltbekannten Basar ist UNESCO Weltkulturerbe.

Vor zwei Jahren wurde dort das größte überdachte Marktviertel der Welt durch Raketenbeschuss in Brand gesetzt und weitgehend zerstört. Aber viel schlimmer als die Vernichtung uralter Geschichte und Kultur ist, dass zigtausende Menschen ermordet und vertrieben werden. Unter ihnen viele Christen. Vor wenigen Jahren lebten in der Millionenstadt Aleppo noch fünfzehn bis zwanzig Prozent Christen. Inzwischen ist der größte Teil von ihnen geflohen.

Im Gespräch mit Jamina kam mir der Bürgerkrieg in Syrien nah. Ich sah ihn in ihren Augen. Mir wurde bewusst, dass dort fast ein ganzes Volk in Angst und Trauer lebt. Gefühle, die das deutsche Volk in der Vergangenheit auch mal kannte. Daran erinnert uns der heutige Volkstrauertag.

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Heute ist Volkstrauertag. Er gehört zu den sogenannten stillen Feiertagen, an denen das öffentlichen Leben ruhiger verläuft, um das religiöse oder sittliche Empfinden nicht zu verletzen. Vor fast hundert Jahren schlug der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge den Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges vor. Die Nationalsozialisten benannten ihn 1934 in Heldengedenktag um und missbrauchten ihn zur Kriegsverherrlichung.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die alte Tradition des Volkstrauertages wieder aufgenommen und 1952 ans Ende des Kirchenjahres verlegt, in eine Zeit, in der die Themen Tod und Ewigkeit vorherrschen. Damit wollte man sich vom Heldengedenktag der Nazis abgrenzen. So kurz nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges waren Schrecken und Schmerz über den sinnlosen Tod ungezählter geliebter Menschen noch in fast jeder deutschen Familie gegenwärtig.

Für mich bleibt der Volkstrauertag eine sinnvolle Einrichtung. Denn seit 1945 sind weltweit wieder über fünfundzwanzig Millionen Menschen durch Kriege und Völkermorde umgekommen. Mehr als fünfzig Millionen Menschen sind zur Zeit auf der Flucht. Sie mussten ihre Heimat verlassen, um Schutz zu suchen vor Krieg, Verfolgung und Gewalt. Nur weil sie einer bestimmten Rasse oder Religion angehören, oder wegen ihrer politischen Überzeugung.

Alle vier Sekunden wird auf der Welt ein Mensch gezwungen wird, um sein Leben zu fliehen. Meist verliert er dabei alles. Familie, Heimat, Hab und Gut. Ist es da nicht mehr als angemessen, einen solchen Gedenktag zu haben? Einen Volkstrauertag, der uns ins Gedächtnis ruft, wie schrecklich menschenunwürdig Krieg und Vertreibung sind? Und der uns herausfordert, gegen solches Leid anzugehen.

Die Vereinten Nationen nennen den Krieg in Syrien den "größten humanitären Notfall unserer Zeit". Fast die Hälfte aller Syrer sind auf der Flucht. Und jeder zweite  davon ist ein Kind. Solange das alles nur als Bild in mein Wohnzimmer flimmerte, hielt sich meine Aufmerksamkeit und Sorge in Grenzen. Aber dann habe ich eben Jamina und Farid kennen gelernt, deren Tante in Aleppo von einer Bombe getötet wurde.

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Von den beiden syrischen Christen Jamina und Farid weiß ich, dass die Flucht aus Syrien immer schwieriger wird. Lebensmittelversorgung, Transportmittel, Zahlungsverkehr brechen dort zusammen. Die Familien werden gezwungen, Grenzposten zu bestechen oder Menschenschmuggler zu bezahlen, von denen man nie weiß, ob sie das Geld nur nehmen, um die Menschen anschließend im Stich zu lassen.

Um der Familie zu helfen, haben wir Hilfe bei der Flüchtlingsberatung des Diakonischen Werkes gesucht. Dort erfuhren wir, dass es aus humanitären Gründen Einreiseerlaubnisse für Betroffene gibt. Im Moment gerade auch für syrische Christen. Das macht Hoffnung. Wir hörten, dass das Land Hessen teilweise die Kosten dafür trägt, zum Beispiel die Krankenversicherungen. Das ist eine große Hilfe. Dennoch sind die Chancen für eine Einreise nach Deutschland niedrig, wenn keine Garantien für die restlichen Unterhaltskosten abgegeben werden.

Wir hatten wenig später einen Termin bei der Ausländerbehörde. Dort half uns eine sehr kompetente und freundliche Frau beim Ausfüllen der entsprechenden Anträge. Inzwischen sind die Anträge auf den Weg gebracht und wir warten. Aber immer wieder hören Farid und Jamina besorgniserregende Informationen über ihre syrischen Angehörigen.

Jamina und Farid sagen oft: Es macht uns froh, dass es hier Leute gibt, die uns helfen. Die nachfragen und mit überlegen. Auch ihr Glaube an den barmherzigen Vater im Himmel hat dadurch wieder Nahrung bekommen. Wir beten manchmal zusammen, wenn ich sie besuche. Die beiden sagen, dass sie dadurch Hoffnung bekommen. Und sie haben seitdem auch das Gefühl, wieder ein Stückchen Heimat zu erleben. Weit weg von Syrien, mitten in Deutschland.

Heute, am Volkstrauertag, erinnern sich bestimmt viele Menschen in Deutschland, dass ihnen auch schon geholfen werden musste - im Großen wie im Kleinen. Wie gut, dass es sie gibt, die Menschen, die nicht vorbei gehen. Manche von ihnen sind durch das bewegt, was in der Bibel steht: Wer die Schwachen unterdrückt, beleidigt ihren Schöpfer. Wer Hilflosen beisteht, ehrt Gott.

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