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Mit Kain und Abel fing es an
Bild: Pixabay

Mit Kain und Abel fing es an

Ksenija Auksutat
Ein Beitrag von Ksenija Auksutat, Evangelische Pfarrerin, Stockstadt

I

Der erste Tote der Bibel ist ein Mordopfer. Ein Brudermord, Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Diese Geschichte von Kain und Abel steht nicht zufällig im ersten Buch Mose, ganz am Anfang der Bibel. Dieses Buch erzählt in machtvollen Bildern, wie die Geschichte Gottes mit den Menschen begonnen hat. Und im Beginn liegt ja immer eine tiefe Wahrheit. Dass es zwei Brüder sind, ist symbolisch gemeint. Schon der erste Mensch stirbt durch seinen Mitmenschen. Kain und Abel stehen sinnbildlich dafür, dass alle Menschen miteinander verwandt sind, Brüder und Schwestern sozusagen. Und dass, wann immer ein Mensch von einem anderen getötet wird, himmelschreiendes Unrecht geschieht.

Mit Kain und Abel, so erzählt die Bibel, hat es begonnen, dass Menschen einander die Köpfe einschlagen. Und wir scheinen ja seit Jahrtausenden nicht gelernt zu haben, anders mit unseren Konflikten umzugehen. Jeden Tag hört man es in den Nachrichten: Der unerklärte Krieg in der Ukraine an der Grenze zu Russland, der Bürgerkrieg in Syrien, die Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern, die schrecklichen Morde, die die sich selbst Islamischer Staat nennende Terrorbrigade an Unschuldigen im Irak verübt. Diese Nachrichten von Krieg und Terror in der Welt bedrücken nicht nur mich. Wir sehen, wie Menschen einander unsagbar Böses antun, und viele denken, das kann doch nicht wahr sein. Sollte die Menschheit heute nicht gelernt haben, dass Gewalt immer neue Gewalt erzeugt?

Vielleicht erzählt die Bibel diesen unheilvollen Konflikt zwischen Kain und Abel darum ganz am Anfang. Woher kommt diese Gewalt zwischen uns Menschen?

II

Durch die vielen Bilder der Medienwelt kann man heute schreckliche Gewalttaten sehen. Vermummte Kämpfer posieren mit ihren Waffen. Die Aufnahmen zeigen auch, was sie damit anrichten. Der amerikanische Journalist, der getötet wurde. Kinder, die Köpfe von Enthaupteten hochhalten. Vor allem die Gewalttaten der Terrorgruppen im Irak lassen uns entsetzt reagieren. Schrecklich, denke ich, stoppen muss man die. Ich denke, das geht vielen so, und auch darum hat die deutsche Regierung beschlossen, Kämpfer vor Ort mit Waffen zur Selbstverteidigung zu unterstützen. Man muss diese Terroristen stoppen, ja, auslöschen, töten, damit sie aufhören, Böses zu tun. So lautet eine der Recht-fertigungen.

Waffen sollen diese Menschen töten. Dann ist das Böse ebenfalls getötet. Was für ein Irrtum! Unbewusst fühlen wir, dass diese Gewalt uns bedroht, auch wenn wir ganz weit entfernt leben. Das Böse, so denke ich oft, ist weit weg. Dort die unmenschlich auftretenden, religiös aufgehetzten Terroristen oder anderswo vielleicht eine machtgierige Herrschergruppe, die auf Kosten anderer hemmungslos ihre Interessen durchsetzt. Hier bei uns ist das, so glauben wir ja, anders. Wir haben unser staatlich geordnetes System, wir haben eine geregelte und verlässliche Ordnung. Wir sind doch friedliebende und friedliche Menschen. So denken wir. Aber stimmt das?

Natürlich, hier gibt es auch Verbrecher. Es gibt Mord und Totschlag. Aber das sind Einzelne, die werden dann bestraft und stellen keine Gefahr mehr dar. Ich glaube, so einfach ist das alles nicht. Unser friedliches Selbstbild verschleiert eher die wahren Verhältnisse. Die Bibel erzählt am Anfang von diesem Brudermord, damit wir nicht vergessen, wozu auch wir als friedliebende Menschen fähig sind.

III

Wie denken Sie eigentlich über sich selbst? Würden Sie von sich sagen: Ich bin ein guter Mensch? Sie könnten niemals so etwas Böses tun? Ich persönlich halte mich eigentlich für einen verträglichen, hilfsbereiten Menschen. Oft versuche ich, gut zu sein. Ich kann auch mal über eine Enttäuschung oder Verletzung durch andere hinweg sehen. Ich muss mich nicht immer durchsetzen. Und kann großzügig sein, auch wenn ich eigentlich denke, ich hätte besseres verdient.

Ja, aber während ich das so aufzähle, merke ich schon: Ich kann auch anders. Natürlich lasse ich mir nicht alles bieten. Ich habe mich auch schon erbittert gewehrt, wenn ich mich ungerecht behandelt fühlte. Und mir fällt natürlich ein, wie ich mich auf Kosten anderer durchgesetzt oder mich gerächt habe, als ich verletzt wurde. Und wenn ich noch ein bisschen länger nachdenke, spüre ich: Die Geschichte von Kain und Abel erzählt von der dunklen Seite in uns selbst. Wir wollen das Böse nicht wahrhaben, auch nicht, dass es in uns allen schlummert.

Wie ist es möglich, dass jemand dreißig Jahre friedlich in der seiner Nachbarschaft wohnt, immer freundlich grüßt und eines Tages stellt sich heraus, dass er ein schreckliches Verbrechen begangen hat? Richterinnen und Staatsanwälte versuchen, die Motive von Verbrechern herauszufinden. Denn zu fast jeder Tat gibt es eine Vorgeschichte. Die Krimis, die viele so gerne lesen, sprechen Bände. Bei einem ist es Machtdenken, das zu Gewalt führt. In einem anderen Fall Gier, die jemanden buchstäblich über Leichen gehen lässt. Oft führen sexuelle Triebe zu einer Aggression, die anderen Menschen Gewalt antut.

Und fast immer gibt es eine Vorgeschichte. Da hatte jemand noch nicht geschlagen, vergewaltigt, geschossen. Da gab es anscheinend eine Grenze. Eine funktionierende Kontrolle. Erst wenn solche Kontrollmechanismen wegbrechen, kann sich diese böse Macht Bahn brechen. Ich glaube, das gilt für fast alle Menschen. Nur dass bei ihnen die Hemmschwelle funktioniert – zur Zeit. Aber es gibt aus der Geschichte genug Beispiele, wo diese Hemmschwelle zur Gewalt überschritten wurde.

In der Nazizeit konnte man sehen, wie im ordentlichen Deutschland diese Schwelle unfassbar schnell verschwunden ist: Nachbarn denunzierten ihre Mitbewohner, um sich zu bereichern, Uniformierte handelten in schrankenloser Brutalität. Verwaltungsfachleute organisierten am Schreibtisch den millionenfachen Mord an Juden in den Vernichtungslagern der Nazis. Die Journalistin Hannah Arendt hat hier von der „Banalität des Bösen“ gesprochen. Und weltweit betrachtet hat es nie aufgehört. Die Vergewaltigungen durch Soldaten in den Kriegen. Der Abu-Ghuraib-Folterskandal im Irak durch amerikanische Soldatinnen und Soldaten.

Das Böse wird immer da sein. Es ist uns näher, als wir wahr haben möchten. Gewalt, ob in Gedanken, in Worten oder mit Waffen, ist in uns. Sie beginnt im Herzen, in einem Gefühl; und dann versucht sie, sich weiter Bahn zu brechen. Kain war nur der Erste. Er hat seinen Bruder erschlagen. Bevor Kain seinen Bruder erschlug, so erzählt die Bibel, versank er in seinen bösen Gedanken. „Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick“, heißt es. Wütend stierte er auf den Boden. Keinen Blick hatte er mehr für den Himmel. Und auch nicht für den Bruder.

Es ist dieser Blick auf den anderen, der nicht verloren gehen darf. Gott stellte Kain nach dem Mord eine einzige Frage: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Und Kain antwortete: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Ja, das sollte er. Wir sollen uns gegenseitig behüten. Dafür sorgen, dass wir gedeihen und gut leben können. Wenn man etwas behütet, dann grenzt man es ein, man schützt es. Darum sind Grenzen so wichtig im Miteinander.

Und noch etwas ist wichtig in der Geschichte von Kain und Abel: Immer sind beide, Täter und Opfer, in Wahrheit Brüder oder Schwestern, denn sie sind beide Menschen.  Wir Menschen sind frei, zum Großartigsten und zum Schrecklichsten. Wenn man aufrecht steht und geradeaus blickt, versinkt man nicht in den eigenen dunklen Gefühlen. Man sieht sein Gegenüber, einen Mensch wie du und ich, einen Bruder, eine Schwester. Vielleicht kann das im letzten Augenblick dazu beitragen, die Gewalt abzuwehren. Beten wir zu Gott, dass wir immer wieder Wege finden zum Frieden. Trotz aller Gewalt.

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