Sich messen lassen
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Sich messen lassen

Pia Baumann
Ein Beitrag von Pia Baumann, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Seit Wochen diskutieren wir zu Hause nicht mehr darüber, wer den Müll runterbringt. Das mache ich. Nicht, weil ich plötzlich ein besonderes Interesse für Müll-Entsorgung entwickelt hätte. Sondern weil ich etwas für mich und meine Gesundheit tun will. Und dabei hilft mir unser Müll. Denn jeder meiner Schritte und jede Treppenstufe hinunter in den Hof werden von meinem neuen Schrittzähler registriert.

Ein winziges schwarzes Gerät. Es ist nicht mal so groß wie mein kleiner Finger. Man kann es problemlos in jede Tasche stecken. Oder sich an die Kleidung klemmen. Einmal befestigt, zählt es jeden Schritt, den ich mache. Jeden Kilometer, den ich gelaufen bin. Zur Belohnung wächst auf dem Display eine kleine Blume. Je mehr ich laufe und treppensteige, desto mehr Blätter bekommt sie.

Dieser spielerische Anreiz funktioniert bei mir wunderbar. Ich gehe jetzt viel mehr zu Fuß. Und abends kontrolliere ich, wie meine digitale Pflanze gewachsen ist. Sie zeigt mir, ob ich die empfohlenen Schritte erreicht habe. Das Ergebnis eines ganz normalen Tages lautet: 10.243 Schritte und elf Stockwerke. Es waren über sechs Kilometer zu Fuß. Das ist gut für mein Herz und meinen Kreislauf. Nebenbei hab ich auch noch Kalorien verbrannt, soviel wie eine halbe Tafel Schokolade.

Ich bin nicht die Einzige, die so mehr zu Fuß geht. Und die ihre Schritte zählt. Ich bin Teil einer weltweiten Bewegung geworden. Man nennt sie Selftracking, also Selbstvermessung. Die Bewegung stammt aus den USA. Sie wurde 2007 in San Francisco geboren. Ihr Motto: Mehr Selbsterkenntnis durch Zahlen.

Mehr Selbsterkenntnis. Das spricht mich doch an. Ich möchte mich besser kennenlernen. Ich möchte Antworten auf die Fragen gewinnen: Wer bin ich? Wer glaube ich, dass ich bin? Worauf kann ich zählen? Und: Wie kann ich gut leben? Mit welchen Maßstäben messe ich mich? Dank meines Schrittzählers weiß ich jetzt: Ich bin ein Mensch, der gern zu Fuß geht. Es fällt mir nicht schwer, das Auto stehen zu lassen. Oder statt des Aufzugs lieber die Treppe zu nehmen. Ganz im Gegenteil. Ich genieße die freien Minuten, die mir mein Gehen verschafft. Besonders wenn ich morgens auf dem Rückweg vom Kindergarten bin. Die Frühlingssonne scheint mir ins Gesicht. Ich schiebe den leeren Buggy vor mir her und erkenne, wie gut mir das Gehen tut. Aber Schritte zählen ist ja erst der Anfang. Denn vermessen lässt sich vieles.

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Vermessen, auf neudeutsch: Selftracken, lässt sich vieles. Echte Selftracker messen nicht nur, wie viel sie gehen, sondern auch wie viel sie schlafen. Wie viele Seiten sie am Tag gelesen haben. Wie lange sie am Computer saßen. Wie viel Geld sie ausgeben haben. Ihren täglichen Kalorienverbrauch. Ihren Körperfettanteil. Und den Blutdruck. Manche messen sogar ihre Hirnströme. Sie wollen das Optimum aus sich rausholen.

Dazu braucht man nicht einmal mehr ein separates Gerät. Unzählige Apps, also die kleinen Mini-Programme auf dem Smartphone, sammeln alles Wissenswerte. Und werten es aus. Daraus ist eine richtige Lebensphilosophie geworden. Niemand verbessert mehr die Welt. Jeder bastelt an sich selbst herum, am eigenen Auftritt, der Performance. Auch so ein neudeutsches Wort.

Es funktioniert durchaus. Das wissen chronisch Kranke wie Diabetiker schon lange: Wer anfängt, sich zu vermessen, verändert allein dadurch sein Verhalten. Wer weiß, wie der Blutzucker auf den Frankfurter Kranz am Nachmittag reagiert, kann gegensteuern und seinen Stoffwechsel stabil halten.

Mein Schrittzähler hat mich in Bewegung gebracht. Er hilft mir, ganz nebenbei zwischen Familie und Beruf etwas für mich selber zu tun. Besser zu werden. Ich tue etwas für meine Gesundheit. Und für die Umwelt. Jeden Tag ein bisschen mehr. Das ist gut.

Und ich erkenne: ich bin ein Mensch, der nicht nur neugierig ist, sondern auch ehrgeizig. Es reizt mich, meine Möglichkeiten auszuloten. Mich zu verbessern. Gesünder, leistungsfähiger zu werden. Und selbst-bewusster, im wahrsten Sinne des Wortes. Das Gerät hat aber auch einen Nachteil: Ich darf mich nicht aufs Sofa legen. Sonst beginnen die Blätter meiner Hosentaschenblume sofort wieder zu welken.

Um sie am Leben zu erhalten, müsste ich mich ständig bewegen. Statt mich hinzusetzen, lieber in den Keller gehen. Schließlich sind das zwei Stockwerke. Die zählen. Und zum anderen wartet da unten noch die Wäsche. Aber ich sitze zwischendurch gerne mal auf dem Sofa. Auch das tut mir gut. Nur hat mein Schrittzähler gar kein Verständnis dafür. Auch die Sandburgen, die ich mit meinen Kindern baue, werden mir leider nicht angerechnet. Genauso wenig wie das stundenlange Telefonat mit meiner besten Freundin. Das Singen im Kirchenchor. Oder die Kraft, die ich aus einem Gebet schöpfe.

Diese Momente honoriert der Schrittzähler nicht mit einem Blatt für meine Blume. Ganz im Gegenteil. Bei Stillstand verschwindet die Blume auf dem Display wieder: Blatt für Blatt. Für sie zählt nur, was sich berechnen lässt. Das setzt mich doch etwas unter Druck. Und macht mir durchaus auch ein schlechtes Gewissen. Das kann ich doch besser.

Ich erkenne: Das Selftracking – die Selbstvermessung - spielt mit meinem menschlichen Bedürfnis, mich immer weiterzuentwickeln. Immer schneller zu werden. Besser zu sein. Und mehr zu haben. Das macht mir auf der einen Seite Spaß. Aber ich fühle mich auch schnell gewogen und für zu leicht befunden.

Wer bin ich denn? Doch nicht nur die Summe meiner Schritte. Noch fällt es mir leicht, 10.000 Schritte und mehr zu tun. Aber ich werde jeden Tag älter. Und langsamer. Irgendwann werde ich nur noch 5000 Schritte schaffen. Und am Ende bin ich wahrscheinlich froh, wenn ich überhaupt noch vor die Tür komme. Und was dann?

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Ich weiß jetzt nicht nur, was Selftracking ist. Sondern auch, wozu es gut sein kann. Ich kann damit mein Leben in Zahlen zusammenfassen und protokollieren. Ich erkenne, womit ich den ganzen Tag bewusst oder unbewusst verbringe. Was unnötig oder sogar schädlich für mich und andere ist, kann ich vielleicht sogar ändern.

Ich weiß aber auch, was die Selbstvermessung nicht kann. Wo ihre die Grenzen sind. Gestern war ich die, die alle ihre Wege zu Fuß gegangen ist. Heute bin ich die, die lieber mit einer Tasse Tee im Garten sitzt und ihren Kindern beim Spielen zuschaut. Und morgen werde ich vielleicht die sein, die froh ist, dass es den Aufzug gibt. Weil ich die schweren Einkaufstaschen nicht mehr die Treppe hochschleppen kann.

Ich erkenne: Das alles bin ich, und eben noch viel mehr. Ich kann nicht alles, was mein Leben ausmacht, in Tabellen fassen und durch Zahlen bewerten. Nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht meine Vergänglichkeit und auch nicht meinen Glauben.

Den Glauben an einen Gott, der mich und die anderen zu seinem Ebenbild geschaffen hat. Der sich mir in bedingungsloser Liebe zuwendet. Der nicht rechnet und nicht kalkuliert. Der mich kennt, wie keiner sonst. Wie nicht einmal ich selbst mich kenne. Der zu mir sagt: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein. So wie du bist. Bei mir zählt alles.“

Das ist für mich eine ungeheuer tröstliche Vorstellung. Und gleichzeitig macht es mir Mut. Ich bin mehr als die Summe meiner Schritte. Mehr als die Summe meiner Daten. Meine Würde als Mensch definiert sich nicht über messbare Zahlen. Ich bin auch etwas wert, wenn ich mich nicht vermessen mag oder kann. Wenn ich krank bin. Oder erschöpft. Oder einfach alt werde.

Das Messen von dem, was ich kann und was ich bin, will ich aber trotzdem nicht aufgeben. Denn es hilft mir ja tatsächlich, mich besser kennenzulernen. Und ein wertvolles Leben zu führen. Aber ich will es nicht nur bei meinen Schritten oder meinem Cholesterinspiegel belassen. Sondern ich möchte auch ermessen, was mir von Herzen und im Glauben wichtig ist.

Dafür brauche ich kein Gerät und keine App. Denn ein Maßstab für gelingendes Leben ist bereits in der Bibel formuliert. Sie nennt es das höchste Gebot: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen und von ganzer Seele und deinen Nächsten wie dich selbst. Auch daran will ich mich messen. Und meine Belohnung? Dass meine Seele zufrieden ist und sogar erblüht. Und die meines Gegenübers hoffentlich auch.

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