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Nichts mehr zu verlieren

Nichts mehr zu verlieren

Stephan Krebs
Ein Beitrag von Stephan Krebs, Evangelischer Pfarrer, Langen

„Me and Bobby McGee“, das ist der berühmteste Song der Popsängerin Janis Joplin. Als sie ihn 1970 herausbrachte, wurde er schnell zu einer Hymne der damals jungen Generation. „Abgebrannt in Baton Rouge, wir warteten auf einen Zug. Meine Gefühle waren ungefähr so abgewetzt wie meine Jeans.“ So geht das Lied los. Erst ganz langsam, dann immer schneller. So lief es Jahrzehnte lang auf Partys und in Discos. Ein tolles Lied zum Tanzen, erst behutsam und in sich versunken, dann immer wilder. Seit über 40 Jahren wird das Lied im Radio gespielt. Und jedes Mal klingt ein Satz heraus, der sich tief in meinem Kopf festgesetzt hat:

„Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, dass Du nichts mehr zu verlieren hast.“ Warum spricht mich das so an, und viele andere auch? Freiheit ist ein Schlüsselwort moderner Sinnsucher. Und die soll nur zu erreichen sein durch den Verlust von allem?! Ein radikaler Satz. Er erinnert mich an die Begegnung, die ein junger wohlhabender Mann mit Jesus hatte. Ein nachdenklicher Typ. Er war überzeugt, den Sinn seines Lebens im Glauben an Gott zu finden. Er hielt die Gebote seines Glaubens, er suchte Gottes Nähe beim Beten. Aber irgendetwas fehlte ihm noch. Deshalb geht er zu Jesus und fragt ihn, was er noch tun muss. Jesus antwortet ihm: „Nimm alles, was du hast, verkauf es und gib es den Armen.“ Als der junge Man das hört, geht er traurig davon, denn das kann er nicht. Diese Freiheit hat er nicht. Alles will er nicht verlieren.

Mir fiele das auch schwer. Wie die meisten Leute habe auch ich ganz schön viel zu verlieren. Es fängt mit dem Besitz an. Je nachdem, was einer hat: Haus, Ersparnisse, Auto, Aktien und vieles mehr. Je mehr man davon hat, desto größer ist die Angst, es zu verlieren. Es ist ja kein Zufall, dass die Mauern, Zäune und Hecken dort am höchsten sind, wo von alledem besonders viel zuhause ist.

Oder die Familie und Freunde, die möchte ich keinesfalls verlieren. Meine Arbeit – auch nicht. Mag sie auch manchmal mühsam sein, so gibt sie mir doch Sinn und bedeutet mir viel. Hobbies – sei es das Motorrad oder das Singen in einem Chor. Auch der eigene gute Ruf, die Achtung der anderen, ist vielen wichtig. Zuletzt ist da noch das Leben selbst, das man bekommt. Und man kann es eigentlich jederzeit verlieren, wenn es das Schicksal, wenn es Gott so verfügt.

Janis Joplin gehörte auch zu denen, die viel zu verlieren hatten. Sogar besonders viel. Denn sie brauchte besonders viel. Sie sehnte sich unstillbar nach Aufmerksamkeit und Liebe. Das haben schon ihre Eltern erzählt. Sie brauchte viel mehr Zuwendung als ihre beiden Geschwister. Als Teenager musste sie starke Akne und den Spott ihrer Mitschüler ertragen. Sie sehnte sich nach einer festen Beziehung und konnte doch keine eingehen. Janis war hungrig nach immer mehr Leben. Aber sie konnte davon nicht satt werden. Mit Drogen und Alkohol gab sie ihrem Leben immer wieder den Kick.

In dem Lied „Me and Bobby McGee“ zeigt sie viel von ihrer Sehnsucht. Sie erzählt von einem Liebespaar, das abgebrannt und runtergekommen durch die USA trampt. Eben sie und Bobby McGee. Sie stranden einem kleinen Ort namens Baton Rouge. Es liegt am Mississippi, 130 Kilometer von New Orleans entfernt. Von dort versuchen sie irgendwie weiterzukommen. Ein LKW-Fahrer nimmt die beiden mit nach New Orleans. Unterwegs zieht sie ihre Mundharmonika aus der Tasche, Bobby singt dazu alle Bluesstücke, die sich der LKW-Fahrer wünscht – für alle drei ein großartiger, ein beseelter Moment. Es braucht oft gar nicht viel, um ganz im Leben aufzugehen.

Doch Bobby hat das Vagabundenleben satt. Er sehnt sich nach einem festen Zuhause. Das will sie aber offenbar nicht. Jedenfalls: Sie trennt sich von ihm. Vielleicht der Fehler ihres Lebens. Denn es zerreißt ihr das Herz den Menschen zu verlieren, dem sie sich eigentlich ganz innig verbunden fühlt.

Wer so leidet, kommt auf seiner Suche nach einem Ausweg fast automatisch bei Gott vorbei. Auch Janis Joplin. Sie stammte aus einem evangelischen Elternhaus, hatte im Jugendchor der Gemeinde mitgesungen. So gerät ihr das Schmerzenslied über den verlorenen Bobby McGee zwischenzeitlich zum Gebet: „Herr, sich gut zu fühlen war einfach, während wir den Blues sangen. Du weißt, sich gut fühlen, das war gut genug für mich und Bobby McGee.“

In ihrem Liebesschmerz singt Janis Joplin den Satz: „Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, dass du nichts mehr zu verlieren hast.“ Sie singt das, als ihr die wichtigste Bindung, die sie hat, nur Schmerzen bereitet. Kein Wunder, dass es ihr da attraktiv erscheint, sich von jeglicher Bindung zu befreien. Flucht nach vorne: Weg mit allem, was Schmerzen bereiten könnte!

Unter rasendem Liebeskummer, den ich loswerden will, leide ich im Moment nicht. Dennoch spricht dieser Satz über die Freiheit in mir etwas an. Warum? Vielleicht, weil er meine Angst aufdeckt. Meine Angst, etwas Wichtiges zu verlieren. Diese Angst um meine Existenz ist hinter den Kulissen ja immer da. Bei jedem ist sie da, wenn man sie auch nicht ständig wahrnimmt. Aber jeder weiß, dass im nächsten Moment etwas Schlimmes passieren kann: ein Unfall, ein Herzanfall. Oder man ist einfach zur falschen Zeit am falschen Platz. Die unbestimmte Angst davor macht Druck. Und dann kommt dieser Satz und sagt: Frei bist du erst, wenn du das alles nicht mehr brauchst. Aber wie soll das gehen? Janis Joplin sagt: Indem du alles hinter dir lässt.

Ich bezweifle das. Wenn ich alles hinter mir lasse, was mein Leben ausmacht, dann macht auch mein Leben nichts mehr aus. Leben heißt, in Beziehungen zu sein, Bindungen zu wagen, Schönes zu teilen, Schmerz zu riskieren. Leben heißt immer auch, gefährdet und abhängig zu sein – von der Natur, von anderen Menschen. Letztlich von Gott, den ich als Quelle meines Lebens sehe. Wenn ich das alles hinter mir lassen will, dann müsste ich jede Liebe meiden aus Angst vor dem möglichen Schmerz. Oder noch radikaler: Ich müsste das Leben wegwerfen, aus Angst, es zu verlieren. Das kann es für mich nicht sein. Als Christ glaube ich: Gott hat mir das Leben sicher nicht gegeben, damit ich es möglichst nicht lebe. Es ist ein Geschenk, aus dem ich etwas machen will – und auch soll. Ich denke, dass man auch in Bindungen und Beziehungen frei sein kann.

Dennoch spricht Janis Joplin in ihrem Lied etwas Wichtiges an. Nämlich die Frage: Wie frei willst du sein? Und wie frei bist du wirklich?

Diese Frage trifft mich als einer, dessen Leben voller Aufgaben und oft auch voller Zwänge ist. Wie viele Leute leide ich darunter, dass die Anforderungen und der Leistungsdruck steigen, mein Alltag wird immer hektischer: zu viel, zu voll. Viele erkennen wie ich: Manchmal ist weniger mehr. Das ist eine uralte spirituelle Erfahrung. Sie steckt in allen Religionen. Heute wird sie wieder neu entdeckt. Sie lautet: „Nur weniges ist wirklich wichtig. Du gewinnst mehr innere Freiheit, indem du weniger äußerliche Zwänge eingehst. Weniger ist mehr.“ Das denkt Janis Joplin radikal zu Ende. Wenn weniger mehr ist, dann ist noch weniger noch mehr. Zu Ende gedacht ist dann „nichts“ eben alles. Dann ist vollkommene Freiheit, wenn man nichts mehr zu verlieren hat.

Ich glaube aber, dass ich gar nicht alles verlieren kann. Selbst wenn alles verloren zu sein scheint, habe ich doch nicht alles verloren. Denn es gibt etwas, dass man gar nicht verlieren kann. Und das ist die Liebe Gottes. Sie ist unverlierbar. Das heißt: das eigene Leben ist selbst dann nicht zu Ende, wenn alles zu Ende scheint. Denn das Leben geht nicht auf in der Welt. Es hat bei Gott noch eine andere Heimat. Jesus sagt es so: „In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost: Ich habe die Welt überwunden.“ Für mich ist auch das Freiheit: Darauf vertrauen zu können, dass ich nicht verloren gehe. Dieser Glaube macht es mir auch leichter, zu einigen Zwängen Nein zu sagen.

Etwas davon deutet auch Janis Joplin an. Ihr Lied endet mit einem wortlosen Silbengesang, aus dem doch immer wieder zu hören ist, dass sie sich an Gott wendet. Oh Lord ...

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